dami charf

Die fünf Lernaufgaben 

Wir haben nun zwei mächtige Wirkfaktoren auf unser Leben betrachtet und deren Folgen beleuchtet. Ich hoffe sehr, dass du dein Leben nun mit mehr Verständnis sehen kannst, denn ich glaube fest daran, dass mit diesem Verständnis die Reise beginnt. Vor allem geht es mir darum, ein liebevolles Verständnis zu schaffen, in dem wir uns selbst freundlicher und gnädiger betrachten und erkennen, wie schwer es ist, etwas »einfach« anders zu machen. Ich weiß, dass viele Menschen nicht verstehen können, warum sie sich immer wieder in den gleichen Mustern wiederfinden, und möchte einen Beitrag leisten, zu erklären, wie es dazu kommt. 

Die Körperpsychotherapie - deren Kind ich bin - geht davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an fünf Lernaufgaben hat, die wesentlich mitbestimmen, wie gut wir später für unser Leben gerüstet sind. Je nachdem, wie wir diese Aufgaben bewältigen, wird unser Körper geprägt und bestimmte Dinge / Gefühle werden in unserem Leben dominanter sein oder eben nicht. Wir werden bestimmte Fähigkeiten gut entwickeln und andere nicht. Letztendlich zielt jede Psychotherapie darauf ab, dass Menschen wichtige fehlende Fähigkeiten erlernen oder wieder für sich entdecken können. Dies ist möglich durch neue bewusste Erfahrungen, die das innere Erleben verändern. 

In den körperpsychotherapeutischen Schulen unterscheidet man fünf Lernaufgaben, die unterschiedlich bezeichnet und von jeder Schule etwas anders beschrieben werden. Dies sind die fünf Hauptthemen: 

  1. Sicherheit und Willkommensein,
  2. Bedürfnisse und Sattwerden,
  3. Hilfe annehmen können,
  4. Selbstständigkeit und Verbundenheit,
  5. Liebe und Sexualität.


Unser Körper bestimmt unser Leben 

Die Lernaufgaben, unsere Selbstregulation und unsere Bindungsmuster sind tiefe Prägungen, die sich nicht nur in unserem Denken spiegeln. Wir verkörpern unsere Prägungen, sie werden zu unserer Persönlichkeit und drücken sich auch in unserer Haltung und körperlichen Präsenz aus. Wir sind unser Körper, so fremd uns diese Aussage auch vorkommen mag in einer Zeit, die immer virtueller wird und den Körper immer mehr als Objekt betrachtet, das zu funktionieren hat. 
Verstand und Gefühl brauchen eine Verkörperung, um geerdet zu sein, um sich in dieser Welt zu verorten und einen Platz als Ich einzunehmen. Außerdem finden Gefühle nun einmal im Körper statt. Wenn wir nichts mehr fühlen, wenn wir unseren Körper nicht spüren, dann wird alles Erleben schal. Das Leben hat keine Tiefe. In der heutigen Zeit leben viele Menschen nur noch in ihrem Kopf, und sie verwechseln Gedanken mit Gefühlen. Bei meiner Arbeit mache ich immer wieder die Erfahrung, wie wenig Menschen ihren Körper wirklich wahrnehmen.
Der Körper wird gemieden, weil sich darin verdrängte Verletzungen befinden. Diese werden zu Spannungsmustern, die sich körperlich manifestieren. Im Kindesalter sind diese Muster noch vorübergehend, doch mit der Zeit werden sie immer mehr zu einem Teil von uns. Sie bestehen aus verspannten Muskeln und entwickeln sich durch viele Wiederholungen gleicher Gefühle und Handlungen.
Was geschieht mit einem Kind, das immer wieder gesagt bekommt: »Man darf Kinder sehen, aber nicht hören«? Es muss Strategien entwickeln, wie es seine lauten Impulse unterdrücken kann. Damit dies gelingt, muss es bestimmte Muskeln immer und immer wieder anspannen. Diese Art der Regulation von Impulsen und Emotionen ist uns selten bewusst, wir nutzen sie jedoch ständig in unserem Alltag.
Stellen wir uns eine Situation am Arbeitsplatz vor: Ein Kollege macht eine wirklich demütigende Bemerkung, und wir spüren, dass uns die Tränen hochsteigen. Wir wollen aber auf keinen Fall in diesem Umfeld und dann noch vor dem Kollegen anfangen zu weinen! Also atmen wir ganz flach und verspannen den Brust - und Bauchraum. Damit halten wir die aufsteigende Emotion unten und sorgen dafür, dass wir nicht in Tränen ausbrechen.
»Heul nicht!« Diese Ansage ist vielen von uns bekannt. Wird der Impuls zu weinen im Laufe einer Kindheit nicht einmal, sondern hunderte Male unterdrückt, kommt es mit der Zeit zu chronischen Verspannungen bestimmter Muskelgruppen, und auch das Atmen wird chronisch flach. Emotionen regulieren wir als Erstes mit dem Atem. Babys haben noch nicht die Möglichkeit, emotionale Schmerzen über Muskelspannungen zu kontrollieren, aber sie können schon den Atem verflachen.
Aus diesen Spannungsverhältnissen, die sich im Laufe der Jahre chronifizieren, entsteht mit der Zeit eine feste Körperhaltung. Es geht dabei nicht um krankhafte Zustände. Keine Haltung oder Struktur ist krankhaft, sie verkörpert einfach unsere Persönlichkeit. In unserem Körper manifestieren sich emotionale Anteile, die wir in uns tragen und teilweise nicht spüren. Haltungen geben bestimmte Gefühlstendenzen in uns vor. Das mag sich zunächst befremdlich anhören, ist aber bei näherer Betrachtung durchaus logisch.
Eine Person, die im Brustraum kollabiert ist, hat durch diese Haltung (hängender Kopf und hängende Schultern) vielleicht eine Tendenz zu Schwermut oder auch zu Depressionen. Aufgrund ihrer Struktur ist sie aber wahrscheinlich viel näher an ihren Gefühlen und dadurch sensibler als jemand, der sehr aufrecht steht, die Schultern nach hinten zieht und glaubt, dass er stark und autonom sein muss. Für diesen letztgenannten Menschen kann es sehr schwierig sein, Hilfe zu erbitten und/oder anzunehmen ...
Erfahrene Körperpsychotherapeuten können diese Haltungen erkennen, interpretieren und sich so ein Bild davon machen, wie ihr Gegenüber die Welt erlebt. In der Haltung offenbaren sich chronifizierte emotionale Zustände, die wir meist nicht mehr bewusst wahrnehmen. Es geht darum, dass diese verdrängten Gefühle wieder bewusst werden, dass sie bearbeitet werden und dass Menschen neue Erfahrungen machen können. Das Ziel ist wie bei jeder guten Psychotherapie, dass sich die Haltung sowohl emotional als auch körperlich wirklich verändert.
Alles, was wir in uns tragen, was uns aber nicht mehr bewusst ist, bestimmt und prägt maßgeblich unser Leben. Häufig ist uns nicht klar, woher diese Muster kommen. Die alten Gefühle und Verletzungen, die sich als Spannungs - und Denkmuster in uns verkörpert haben, formen die sprichwörtliche Brille, durch die wir die Welt sehen. Das bedeutet, dass unsere Körperstruktur über unsere Stimmungen und sogar über unser Denken entscheidet. In bestimmten Haltungen kann man bestimmte Gedanken praktisch nicht denken, während es in anderen Haltungen womöglich sehr leichtfällt.
Im Folgenden beschreibe ich die fünf Lernaufgaben näher, um dir noch mehr Verständnis für dich und dein Leben zu vermitteln. Ich bin mir sicher, dass du dadurch auch andere Menschen anders betrachten und ihnen vielleicht anders begegnen wirst.

Sicherheit und Willkommensein – wie das Leben beginnt (ab Seite 103)

Der Beginn unseres Lebens ist spektakulär. Wir treten in diese Welt durch unsere Geburt, doch unser Leben hat schon lange vorher angefangen. Manche Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass die neun Monate im Mutterleib schon ein eigenes, in sich abgeschlossenes Leben darstellen, das durch die Geburt beendet wird.
Wir wissen heute, dass diese Zeit uns bereits nachhaltig prägt. Im schlimmsten Fall hat unsere Mutter geraucht und Alkohol getrunken, und wir kommen bereits vergiftet und süchtig auf diese Erde. Doch die meisten von uns haben Glück, und unsere Mütter waren bemüht, während der Schwangerschaft alles richtig zu machen. Dennoch haben viele Menschen, vor allem diejenigen jenseits der 50, das Gefühl, nicht ausdrücklich erwünscht gewesen zu sein, sondern irgendwie als erfreulicher bis tragischer »Unfall« gezeugt worden zu sein.
Kinder werden aus den unterschiedlichsten Motivationen in die Welt gesetzt, und nicht alle haben etwas mit Kinderliebe zu tun. Jede dieser Motivationen prägt das Kind, da die Mutter mit den zugehörigen Gefühlen durch die Schwangerschaft geht. Es ist ein Unterschied, ob eine Frau ein Baby mit viel Freude und Liebe austrägt oder in der Hoffnung, wegen des Kindes nicht verlassen zu werden.
Wenn wir uns vorstellen, wir müssten neun Monate mit jemandem auf engstem Raum zusammensein, der uns nicht haben möchte, so ist der Gedanke daran wahrscheinlich unerträglich, besonders, wenn man einer solchen Situation nicht entfliehen kann. Babys können aber den Mutterleib nicht verlassen, wann sie wollen. Sie müssen mit allen mütterlichen Gefühlen leben —sei es Ablehnung, Angst, Freude, Glück oder regelrechter Terror. Natürlich hinterlässt jeder dieser Gefühlszustände Spuren.
Vielen Menschen ist ihr eigenes Lebensgefühl ein Rätsel, sie können sich durch ihre bewussten Erinnerungen nicht erklären, warum sie Angst vor bestimmten Ereignissen haben oder woher das grundlegend unbehagliche Lebensgefühl kommt, das sie begleitet. Manchmal lässt sich dies durch Ereignisse erklären, die während der Schwangerschaft geschahen. An dieser Stelle kommen darüber hinaus auch generationenübergreifende Aspekte ins Spiel. Wir wissen bis heute nicht genau, wie Erfahrungen von einer Generation an die andere weitergegeben werden. Wir wissen nur, dass es so ist, und zwar eben auch jenseits einer Übermittlung durch Sprache. Wir werden bereits durch die Lebenserfahrung unserer Mütter und Väter vorgeprägt; bestimmte Aspekte, die unsere Eltern tief empfunden haben, scheinen auf uns überzugehen.

Die Geburt — ein unterschätztes Ereignis 

Die Geburt ist ein großer und prägender Schritt ins Leben. Sie ist ein derart einschneidendes Erlebnis und hinterlässt so tiefe Spuren, dass Körperpsychotherapeuten erwachsenen Menschen ansehen können, ob ihre Geburt schwierig war. 
Die Prä- und Perinatale Psychologie geht davon aus, dass bei der Geburt bereits Lebensskripte für die gesamte Lebenshaltung gelegt werden. Kommen wir mit Todesangst auf die Welt, weil uns die Nabelschnur fast erdrosselt hat? Sind wir sediert und orientierungslos durch die Narkose unserer Mütter? Oder kommen wir in Ruhe in einem warmen abgedunkelten Raum auf die Welt und werden liebevoll auf Mamas Bauch gelegt? Die Redensart »Der erste Eindruck ist entscheidend« trifft auch auf unsere Geburt zu und prägt damit unser zukünftiges Lebensgefühl. 
Für Erwachsene ist es schwer, einen Bezug zur emotionalen Tragweite sehr früher Lebensereignisse herzustellen, so eben auch zur Geburt. Deswegen empfehle ich das folgende Gedankenexperiment: Stell dir vor, du wohnst in einem wunderschönen, gut klimatisierten All-inclusive-Hotel und fühlst dich rundherum wohl. Du bekommst jeden Tag zu essen, lauschst den gedämpften Geräuschen der Umgebung, und alles ist sehr angenehm. Doch irgendwann wird dir das Hotel zu eng und du willst die Umgebung erkunden. Nun gibt es eine Reihe von Möglichkeiten:
  1. Du trittst aus dem Hotel, kommst aus der Tür und wirst von Scheinwerfern angestrahlt, an den Füßen gepackt und hochgehoben, in die Füße gestochen, abgerieben und dann irgendwo hingelegt, wo du niemanden kennst und völlig allein bist.
  2. Bevor du dich wirklich entschieden hast, das Hotel zu verlassen, sprengt jemand die Wand des Hotels, greift durch das Loch und zieht dich heraus.
  3. Du machst dich gerade zum Ausgehen bereit und trinkst noch einen Tee. Auf einmal merkst du, dass dir schummrig wird — jemand hat dir etwas in den Tee getan. Orientierungslos taumelst du aus dem Hotel und weißt überhaupt nicht, wie dir geschieht. Du fühlst dich verloren, und keiner deiner Reflexe funktioniert. Dumpf lässt du alles über dich ergehen.
  4. Während du durch die Türen ins Freie strebst, schlingt sich etwas um deinen Hals, und du spürst, dass du zu ersticken drohst. Zurück kannst du nicht mehr, aber wenn du weiter nach draußen gehst, zieht sich die Schlinge noch mehr zu.
  5. Du machst dich im Hotel in deinem Tempo bereit, um auszugehen und die Gegend zu erkunden. Als du aus der Tür trittst, wirst du von den Einheimischen freudig begrüßt und eingeladen. Alles ist warm, das Licht angenehm, die Temperatur perfekt, und das Essen steht auch schon bereit.

Wie würden diese verschiedenen ersten Eindrücke dein Bild von dem Land prägen, in das du kommst? Würdest du noch einmal dorthin fahren wollen? Würdest du diesen ersten Eindruck jemals vergessen?
Leider wird vonseiten der Medizin der emotionale Aspekt einer Geburt immer noch völlig vernachlässigt. Und da niemand sich daran erinnern kann und damit auch keinen direkten Zugang zu der Prägung hat, die dabei entsteht, setzen sich nur wenige Menschen engagiert für einen anderen Umgang mit Geburten ein. 
Säuglinge sind beim gesamten Geburtsvorgang absolut präsent und aktiv. Man weiß heute, dass das Baby selbst hormonell die Geburt einleitet und sich bereit macht für die Reise durch den Geburtskanal. Während der Geburt und in der Stunde danach werden unsere Bindung und unser Urvertrauen nachhaltig geprägt. Viele Wissenschaftler sind sich heute einig, dass die Zeit um die Geburt die prägendste unseres Lebens ist.
Ein Baby ist während der Geburt enormen Kräften ausgesetzt, es wird von Adrenalin geflutet, und auch Oxytocin wird in großen Mengen freigesetzt. Ersteres benötigt der Säugling um die Energie zu entwickeln, sich durch den engen Geburtskanal zu bewegen. Letzteres ist ein Bindungshormon, das die Verbindung von Mutter und Kind unterstützt. Die hormonelle Lage der Mutter entspricht weitgehend der des Säuglings, und wenn alles gut läuft, werden Mutter und Kind sich ineinander verlieben.
Viele Säuglingsforscher glauben, dass der Verlauf der Geburt immens wichtig für uns ist. Zum einen bekommen Säuglinge hier zum ersten Mal ein Gefühl für ihre eigene Verkörperung, da sie in der Enge des Geburtskanals ihre körperlichen Grenzen spüren. Zum anderen geht man davon aus, dass die Geburt, wenn sie reibungslos verläuft, das erste Erfolgserlebnis des Kindes darstellt.
Nach der Geburt sollte das Kind auf den Bauch der Mutter gelegt werden, um ihm Zeit zu geben, sich zu orientieren. Es robbt dann, wenn es so weit ist, aus eigener Kraft zur Brust der Mutter. Diesen Prozess nennt man Selbstanbindung, und er erfüllt das Neugeborene erneut mit einem Gefühl des Erfolgs. Der Moment, in dem es die Brust der Mutter erreicht hat und es zum ersten Augenkontakt kommt, ist ein Fest intensiver Bindung. Für das Neugeborene ist es der Moment des Landens, des Ankommens in diesem Leben und der Verbindung mit seinen Bezugspersonen und dadurch mit sich selbst.
Der ganze Vorgang ist ein Akt des Willkommens in der Welt: Das Kind landet im eigenen Körper, und der warme Körper der Mutter schenkt ihm Ruhe und Geborgenheit. Es erlebt Selbstwirksamkeit, wenn es die Brust erreicht. Es nimmt Kontakt mit der Mutter auf und hört ihre Stimme. Es ist der Augenblick des Erkanntwerdens. Man geht heute davon aus, dass Säuglinge nur auf eine Entfernung von etwa 30 bis 40 Zentimetern einigermaßen scharf sehen können. Dies ist die Distanz von der Brust zu den Augen der Mutter. Die Nahrungsaufnahme beim Stillen ist so auch immer ein psychisches Genährtwerden, Das Kind fühlt sich wahrgenommen und kann sich des eigenen Seins versichern.

Verloren zwischen den Welten

Genau diese Erfahrungen fehlen, wenn Schwangerschaft, Geburt und die Zeit unmittelbar danach nicht gut abgelaufen sind. Darauf lassen Emotionen wie Einsamkeit, sich wie abgeschnitten fühlen, Sinnlosigkeit und Wertlosigkeit schließen. Die betroffenen Menschen haben oft ihr ganzes Leben lang das Gefühl, anders und fremd zu sein. Sie sind nie »zu Hause« angekommen, weil sie nicht willkommen geheißen wurden oder der Prozess durch äußere Umstände massiv gestört oder verhindert wurde. Sie tragen häufig eine tiefe Sehnsucht in sich und suchen manchmal ihr Leben lang nach ihrem Zuhause. Dieses Zuhause wäre ihr eigener Körper und das Ankommen bei einem Du. Wir kommen auf die Welt mit der Frage: »Wo bist du?« - die schöne Formulierung stammt aus der Bindungsforschung. Diese Frage sollte bei der Geburt beantwortet werden, denn dadurch kehrt Frieden in den Säugling ein.
Meine Generation (Jahrgang 1964) wurde nach der Geburt meist sofort gewaschen, geimpft und in ein Nebenzimmer gelegt. Wir waren nach der intensivsten Erfahrung unseres bisherigen Lebens plötzlich vollkommen allein. Niemand war da, außer vielleicht andere angsterfüllte Babys. Frühgeburten lagen bis vor Kurzem häufig über Wochen oder Monate in vollkommener Isolation ohne jeden Körperkontakt in ihrem Brutkasten. Manche Babys werden sofort nach der Geburt operiert und dadurch massiven Schmerzen und höchst beängstigenden Prozeduren ausgesetzt. Es geht hier nicht darum, lebensrettende Maßnahmen infrage zu stellen, sondern um das Bewusstsein dafür, welch tiefe Spuren auf der emotionalen Ebene dabei entstehen.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Kaiserschnittbabys ihren Körper weniger gut spüren. Das kann sich daran zeigen, dass sie sich häufiger stoßen und sich nicht so viel zutrauen wie Kinder, die auf normalem Weg zur Welt gekommen sind. Doch leider werden diese Geburten immer seltener. In den USA gibt es bereits heute nur noch wenige Ärzte, die eine natürliche Geburt begleiten können. Viele haben es noch nie gemacht. Die Versicherungen haben die Sätze für natürliche Geburten derart hochgesetzt, dass Kaiserschnitte deutlich lukrativer sind. Auch bei uns werden die Versicherungssätze für Hebammen so hoch angesetzt, dass dieser Beruf wohl bald aussterben wird oder die Hebammen nur noch die Nachsorge begleiten.
Der Säugling ist, wie gesagt, an seiner Geburt höchst engagiert beteiligt und sehr präsent. Dies steht im krassen Gegensatz zu der immer noch anzutreffenden Überzeugung, dass Säuglinge nichts spüren und dass es keine Bedeutung hat, wenn sie schreien. Das Schreien von Säuglingen wird teilweise noch immer eher als ein Reflex angesehen, denn als Äußerung echten Leids. Die Vorstellung, dass es Babys nicht schadet, sie schreien zu lassen, spukt leider bis heute in den Köpfen herum.
Lange wurde Säuglingen ein bewusstes Dasein abgesprochen. Man hielt sie nicht einmal für vollständige Menschen, weshalb sie bis Ende der 1970er-Jahre auch keinen Anspruch auf Menschenrechte hatten, Und auch heute noch kann man beobachten, wie achtlos manche Menschen mit Kleinkindern und Babys umgehen, Sie verhindern nicht, dass sie furchtbare Bilder zu sehen bekommen, oder reden im Beisein der Kinder über Dinge, die nicht kindgerecht sind.
Wir neigen dazu, Menschen, die nicht sprechen können, nicht für voll zu nehmen, und gehen davon aus, dass sie kognitiv nichts aufnehmen. Doch der Teil des Gehirns, der für das implizite Gedächtnis zuständig ist, hat sich schon lange vor der Geburt ausgebildet und wird in dieser Zeit entscheidend geprägt.
Kinder bilden also bereits Gedächtnisinhalte, die eine Wirkung auf sie haben, die sie aber nicht versprachlichen können. Manche Menschen wissen aus Erzählungen, dass sie als Baby von der Wickelkommode gefallen sind, können sich jedoch nicht bewusst daran erinnern. Sie haben allerdings große Angst zu stürzen oder Albträume vom Fallen. Es ist zwar selten möglich, eine solche Erinnerung in das Bewusstsein zu holen, doch durch die Arbeit mit der Körpererinnerung kann es gelingen, sich der Angst zu nähern und sie zu verarbeite

Die Angst vor Vernichtung

Der Aspekt der Verkörperung wird in den meisten Psychotherapien zu wenig oder gar nicht berücksichtigt. Leider leben wir in einer Welt, die dem Körper nur wenig Bedeutung beimisst — er soll funktionieren, gut aussehen und vor allem nicht schmerzen. Die Bedeutung des Körpers wird uns oft erst klar, wenn er eben nicht mehr funktioniert oder gar wehtut. Sehr viele Leiden von Menschen rühren von einer nicht vollständig erfolgten Verkörperung her.
Menschen, bei denen dieser Prozess dagegen gut verlaufen ist, fühlen sich selbst von Kopf bis Fuß. Ihr Körper ist ihr Zuhause, sie fühlen sich wohl in ihrer Haut und haben auch keinen Zweifel daran, dass sie ein Recht darauf haben, auf dieser Welt zu sein. Sie empfinden ihr Leben als sinnhaft und fühlen sich mit anderen Menschen verbunden. Sie sind Teil einer Familie, einer Gruppe und dieser Gesellschaft, im besten Falle sogar ein Mitglied der Erdengemeinschaft aller Lebewesen. Die Überschneidungen mit dem sicheren Bindungsmuster sind offensichtlich.
Ein Mensch, der nicht willkommen geheißen oder sofort allein gelassen wurde oder schmerzhafte Erfahrungen gemacht hat, landet dagegen nicht vollständig in seinem Körper und damit auch nicht vollkommen in dieser Welt. Diese Menschen sind häufig mehr in Fantasien, virtuellen Welten, intellektuellen Konstrukten, kurz in ihrem Kopf zu Hause. Unserer auf Autonomie und Individualität fixierten Gesellschaft ist kaum verständlich zu machen, dass wir nur ein Ich entwickeln können, wenn es ein Du gibt.
Stell dir einmal vor, dass du etwas erleiden musst, vor dem du nicht fliehen kannst. Ja, noch schlimmer, du kannst dich nicht einmal bewegen! Ein Baby hat noch keine Kontrolle über seine Muskulatur, es kann sich nicht wegdrehen, es kann sich nicht ablenken. Es liegt auf dem Rücken und muss mit allem zurechtkommen, was mit ihm gemacht wird oder auch nicht gemacht wird. Invasive Erfahrungen sind genauso bedrohlich wie Deprivation. Unter »invasiv« versteht man grenzüberschreitende Erfahrungen, die sehr eindringend sind und gegen die man sich nicht schützen kann, während »Deprivation« einen massiven Mangel bis hin zur Vernachlässigung bezeichnet. Beides kann ein Baby nicht regulieren, und beide Erfahrungen lösen massive Angst aus, Aber auch scheinbar unbedeutende Dinge, wie etwa, alleine schlafen zu müssen, im Nebenraum alleine zu liegen oder nicht genügend Kontakt zu haben, beängstigen ein Baby massiv.
Um diesem Schmerz auszuweichen, bleibt Babys keine andere Wahl, als sich von ihrem Körper zu distanzieren und ihre Lebensenergie in den Kopf und tief in die Knochen zurückzuziehen. Durch diesen Schutzmechanismus findet nur eine partielle Verkörperung statt. Steigern sich der Schmerz und die Überwältigung für das Kind noch, kapselt es sich ganz vom Körper ab und landet dadurch nicht vollständig in dieser Welt.
In diesem Fall, wenn der Entwicklungsschritt der Verkörperung nicht genügend gut durchlaufen wird, bleibt das Kind in einer Zwischenwelt. Diese Kinder fallen manchmal dadurch auf, dass sie zart und blass sind, viel träumen und häufig in Fantasiewelten leben.
Im Erwachsenenalter beschreiben die Betroffenen ihre Welt oft sehr anschaulich durch Aussagen wie »allein durch Nebel zu waten«, »im leeren Raum verloren gegangen zu sein« oder »anders zu sein als die anderen«.
Ein Problem, das erschwerend hinzukommt, besteht darin, dass diese Menschen oft intellektuell sehr fähig sind. Das heißt, man kann stundenlang mit ihnen über ihre Probleme sprechen, diese analysieren und Erkenntnisse sammeln. Leider nützt ihnen das nur wenig, denn die Erkenntnisse sind nicht mit Gefühlen verbunden und noch seltener mit einer verkörperten Erfahrung gekoppelt. Aus diesem Grund haben Menschen mit einem frühen Entwicklungstrauma meist die längsten und frustrierendsten Therapieerfahrungen hinter sich, da viele Therapeuten nicht bindungs - oder körperorientiert arbeiten und ihre Klienten nicht da abholen können, wo sie sind.
Diese sehr früh verletzten Menschen stellen am ehesten etwas dar, das man eine »Traumastruktur« nennen könnte. Die frühen Erlebnisse von Angst, Alleinsein und Ablehnung haben eine tiefe Angst vor Vernichtung entstehen lassen. Leider ist diese Angst eng mit der Erfahrung des Lebendigseins gekoppelt, und so haben die betroffenen Menschen später oft Angst vor ihrer eigenen Lebendigkeit. Diese Angst wird tief in jeder Körperzelle gespeichert und ist ein Grund dafür, warum der Körper gemieden wird. Jeder Mensch kann Angstgefühle nur eine gewisse Zeit lang aushalten. Angst ist mit massiver Erregung im Körper verbunden, die ein Baby nicht bewältigen kann. So entsteht eine chronische Form der Übererregung des Nervensystems, die zu einem Teil des Selbstgefühls wird.
Erinnern wir uns: Da der Körper eine Übererregung des sympathischen Systems nur eine begrenzte Zeit lang aushalten kann und das Kind nicht fliehen und nicht kämpfen kann, setzt - nachdem es vergeblich geschrien und protestiert hat - die letzte Form des Selbstschutzes ein: die Aufgabe und Resignation, der Totstellreflex.
Es entsteht eine grundlegende Form der Dissoziation von sich selbst, in der Menschen oft ein Leben lang gefangen sind. Eine Form, die allerdings für sie der normale Alltagszustand ist, deshalb nicht auffällt und auch nicht benannt werden kann: Dissoziation als Lebensgefühl. Erst wenn sie sich Herausforderungen stellen müssen, die sie allein mit dem Verstand nicht bewältigen können, wird manchen Menschen das Ausmaß ihres Dilemmas bewusst, und sie suchen Hilfe.

Die Spuren im späteren Leben

Die Auswirkungen dieser frühen Verletzungen in der pränatalen oder perinatalen Phase für das spätere Leben habe ich zum Teil schon benannt: das Gefühl, abgeschnitten zu sein, sich anders« zu fühlen, mit dem Sinn des Lebens zu hadern, Doch die Folgen gehen weit darüber hinaus, denn jede Erfahrung hinterlässt Spuren in Körper und Psyche. Starke Erfahrungen übermitteln uns Überzeugungen, wie die Welt funktioniert. Es entstehen Blaupausen für das Leben. Die tief sitzenden Grundüberzeugungen — die sogenannten Glaubenssätze - von sehr früh verletzten Menschen lauten:

  • Die Welt ist ein gefährlicher Ort.
  • Ich bin nicht willkommen.
  • Ich gehöre nicht hierher.
  • Menschen kann man nicht trauen.
  • Ich bin anders.

Häufig bilden sich auch noch andere Persönlichkeitsmerkmale heraus, anhand derer man Menschen mit frühen Verletzungen erkennt. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist das »Verkopftsein«. Die kopflastige Art, an die Welt und sich selbst heranzugehen, ist eine der schwerwiegendsten Folgen früher Traumatisierungen. Fatalerweise ist sie Überlebensressource und Falle zugleich. Eine Ressource deshalb, weil der Intellekt oft sehr gut funktioniert und die Welt handhabbar macht. Jedoch fehlt genau dadurch das lebendige Verbundensein mit sich und der Welt.
Gefühle und Bindung gibt es nur beschränkt, und so verstärkt sich mit der Zeit das Gefühl von Einsamkeit und Anderssein. Um Gefühle zu spüren, brauchen wir einen Körper, der als Resonanzkörper wirkt. Hier erspüren wir uns selbst, wir können fühlen, dass wir uns wohlfühlen oder dass wir uns öffnen und vertrauen.
Je nachdem, wie viel Verkörperung stattgefunden hat, können Menschen mit frühen Traumatisierungen dies nicht spüren. Damit sind sie immer und in jeder Situation darauf angewiesen, dass sie die Dinge durchdenken und dann die »richtigen« Schlüsse ziehen. Das Problem dabei ist: Der Verstand kann alles begründen, ist vom Wesen her aber kalt.
Aus den neueren Erkenntnissen der Neuropsychologie weiß man, dass Menschen, die keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben, weil ihr limbisches System im Gehirn verletzt ist, kaum entscheiden können, ob sie einen Tee oder einen Kaffee trinken wollen. Wir brauchen für jede Entscheidung letztendlich ein Gefühl, das uns in die eine oder andere Richtung treibt. Wir werden dies dann immer rational unterfüttern (auch wenn es vollkommen irrational war), damit unser Verstand zufrieden ist. António Damasio, ein bekannter Hirnforscher, spricht von »somatischen Markern« oder »Bodymarkern«, die uns sagen, was sich gut anfühlt und was nicht. Dies bedeutet nichts anderes, als dass wir eine Körperempfindung auslesen, interpretieren und daraufhin wissen, was wir wollen.
Körperempfindungen liegen unterhalb von Gefühlen oder Emotionen. Manchmal fühlen wir, dass sich unsere Brust weitet oder unser Hals sich zusammenzieht. Diese Körperempfindungen interpretieren wir im nächsten Schritt und lassen sie so zu einem Gefühl werden. Wir fühlen die Weite in der Brust und sagen, dass wir glücklich sind. Wir fühlen die Enge im Hals und sagen, dass wir Angst haben. Diese Interpretationen von Empfindungen finden fast immer unterhalb des Bewusstseins statt und basieren auf Vorerfahrungen.
Haben Menschen keinen Zugang zu ihrem Körper und spüren diesen nicht, entgehen ihnen viele Informationen. Die Fähigkeit, Körperempfindungen wahrzunehmen, nennt man Interozeption. Sind Menschen körperblind, dann fehlen ihnen diese Informationen über ihren eigenen Zustand. Das kann im Alltag dazu führen, dass sie sich selbst chronisch überfordern und in ein Burn-out treiben. Sie bekommen ihre Erschöpfung oft erst dann bewusst mit, wenn Schmerzen auftauchen oder andere Symptome, die nicht mehr zu ignorieren sind. Diese Körperblindheit macht es sehr schwer, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu erfüllen. Deshalb leben körperblinde Menschen oft in einer gewissen Kargheit oder Entsagung, Manchmal sind es auch Menschen mit faszinierenden Lebensumständen, die ihr Gefühl, anders zu sein und ohnehin nicht dazuzugehören, dazu nutzen, dann auch einfach anders zu leben: Sie unternehmen allein (oder mit einem Hund oder Pferd) lange Wanderungen, wohnen irgendwo abgelegen in einem Bauwagen oder radeln mit dem Fahrrad um die Welt. Hier findet man Querdenker und Revolutionäre, die den Status quo mit Begeisterung infrage stellen.
Die meisten Menschen mit frühen Verletzungen hassen alles Unechte. Sie verfügen über sehr feine Antennen nach außen und bekommen sehr viel mit. Sie sind gute Beobachter und stehen oft am Rand, weil ihnen Gruppendynamiken suspekt sind, Sie sind die einsamen Wölfe, die sich so ihre Gedanken machen über den Irrsinn dieser Gesellschaft.
Diese sensible Wahrnehmung für Authentizität macht auch eine klassische Therapie schwierig. Ich hatte schon gesagt, dass Menschen mit diesen ganz frühen Verletzungen die längsten Therapie- und Leidensgeschichten haben. Dies liegt unter anderem daran, dass Therapeuten häufig aus einer Rolle heraus agieren und keinen echten Kontakt anbieten. Sie haben ein Arbeitsverhältnis, aber keine Beziehung zu ihren Klienten. Genau das ist aber das fehlende Element im Leben dieser Menschen - und sie fühlen sich in der Therapie dann wieder nicht wirklich gesehen und berührt.

Die innere Rage

Ein Baby, das die Erfahrung macht, allein gelassen und nicht gesehen zu werden, wird zunächst mit Empörung reagieren. Es fängt an zu schreien und versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn es feststellen muss, dass niemand kommt, wird es lauter und immer wütender. Diese Wut kann sich bis zur Rage steigern. Passiert dann immer noch nichts und kümmern sich die Eltern einfach nicht, gibt das Kind irgendwann erschöpft auf.
Viele Eltern halten das Schreien-Lassen auch heute noch für ein sinnvolles Vorgehen, weil sie dem Kind absichtsvolles Schreien unterstellen. Kinder unter zwei Jahren haben jedoch noch keine Absichten oder Pläne, und dieses Erleben von Hilflosigkeit ist absolut grausam für sie.
Das Baby wird, wenn es oft genug ignoriert wird, tatsächlich irgendwann das Schreien aufgeben, aber um einen entsetzlich hohen Preis: Diese frühen Traumatisierungen prägen Menschen oft ein Leben lang und wären doch so leicht zu verhindern gewesen. Auf das Gefühl der Hilflosigkeit folgen Wut und Empörung, die sich zu einem inneren Gefühl von Rage steigern.
Diese Rage trägt fast jeder Mensch mit einem frühen Trauma in sich. Rage ist weit mehr als Wut, es ist ein Gefühl des Vernichtenwollens. Die subjektiv erlebte Angst vor der eigenen Vernichtung schlummert in Menschen als tiefes Gefühl von Rage. Rage ist eine sehr tief sitzende, grenzenlose Wut, und viele Menschen verspüren tatsächlich die Angst in sich, dass jemand zu Tode käme, wenn sie diese Wut »rauslassen« würden. Diese Rage ist oft gekoppelt an das Gefühl von Unrecht und Ungerechtigkeit, und dieses zu erleben, löst immer wieder hilflose Wut aus, die zu Rage werden kann.
Rage ist eine äußerst hochenergetische Emotion, im Grunde sogar mehr als eine Emotion, und zwar die instinkthafte Äußerung von Wut. Menschen mit frühen traumatischen Verletzungen haben das Gefühl, auf einem Vulkan zu leben. Einem vollkommen unberechenbaren Vulkan, der für sie nicht kontrollierbar scheint und deshalb komplett unter Verschluss gehalten werden muss. Die Idee, diese Wut einfach mal »raus. zulassen«, erscheint vor diesem Hintergrund naiv. Die früher praktizierten Übungen der Körperpsychotherapie, in denen auf Kissen oder Matratzen eingeprügelt wurde, führten bei Menschen mit frühem Trauma häufig in die Dissoziation, weil die Gefühle zu groß waren, um noch reguliert werden zu können.
Die mangelnde Verkörperung dieser Menschen drückt sich häufig auch in einer flachen Atmung aus, die ich »Sparatmung« nenne. Da sie selbst über nur wenig Regulationsfähigkeit verfügen, können sie nicht viel Energie in sich halten und fühlen sich auch schnell von der Energie anderer Menschen überflutet.
Fast jeder traumatisierte Mensch fühlt Schuld und Scham. Es gibt tief innerlich das Gefühl, irgendwie falsch zu sein; dies löst Scham aus. Es ist ein langer Weg, zu erkennen, dass man nicht schuld und nicht falsch gewesen sein kann - Kinder sind unschuldige Wesen. Es ist ein wichtiger Schritt, sich selbst zu verzeihen, dass man sich über so lange Zeit selbst verraten und immer wieder versucht hat, die Liebe der Eltern zu erringen. Sich zu verzeihen, dass man als Kind immer wieder deren Nähe gesucht hat, obwohl die Eltern einen vielleicht gedemütigt, übersehen, geschlagen oder gar sexuell misshandelt haben.
Viele Menschen empfinden ihren Eltern gegenüber eine tiefe Loyalität, selbst wenn diese Täter waren. Das führt leider oft dazu, dass sie sich selbst immer und immer wieder verraten, um die Beziehung zu den Eltern aufrechterhalten zu können. Bei der Arbeit mit diesen alten Verletzungen stoße ich häufig auf unstrukturierte Körpererinnerungen und unstrukturierte Gedankenverknüpfungen. Der Überlebensmechanismus, diese schrecklichen Erlebnisse und die damit zusammenhängenden Gefühle zu dissoziieren, hat zur Folge, dass viele Gedanken, Gefühle und Erlebnisse vollkommen unverknüpft miteinander im Kopf koexistieren. Es braucht Zeit, diesen Knoten langsam auf verschiedenen Ebenen zu entwirren, bis ein kongruentes Bild eines Menschen und seines Lebens entsteht.
Es ist mir ein Anliegen, die Loyalität meiner Klienten für sich selbst zu stärken, und mein Job als Therapeutin ist es, ihnen gegenüber loyal zu sein und nicht ihren Eltern gegenüber. Die Idee, dass man allen verzeihen müsste, um ein glückliches Leben führen zu können, kann sich auf früh traumatisierte Menschen sehr schädlich auswirken. Verzeihen ist meiner Meinung nach ein Prozess, der erst ganz am Ende der Bewältigung der eigenen Geschichte stehen kann - nicht muss. Diese Entscheidung kann nur jeder Mensch selbst treffen, denn als Außenstehende können wir niemals ganz erfassen, was jemandem angetan wurde und ob dies zu verzeihen ist. Verzeiht ein Mensch mit einem frühkindlichen Trauma seinen Eltern zu früh, führt dies nur allzu oft dazu, dass er seine Wut und Verletzung gegen sich selbst richtet - denn irgendwo müssen die Gefühle ja hin, und irgendwer muss ja verantwortlich sein.
Meiner Meinung nach wird bei diesem Thema viel Schaden angerichtet. Ich bin mir sicher, dass man auch ein gutes Leben führen kann, ohne allen Menschen zu vergeben. Es gibt keine Regel, die besagt, dass nur Verzeihen zu einem erfüllten Leben führt. Hass führt sicher auch nicht zu Lebenszufriedenheit, aber das Gegenteil von Verzeihen ist nicht Hass. Die einzige Person, der wir unbedingt verzeihen sollten - so unlogisch das für den Verstand klingen mag -, sind wir selbst. Mit niemandem gehen wir so hart ins Gericht wie mit uns selbst! Hören wir damit auf, sind wir einem erfüllten Leben einen großen Schritt näher gekommen.
Das Gleiche gilt für das Thema Verständnis, denn häufig schließt das Verständnis für den anderen das Verständnis für sich selbst aus. Sehr häufig sehe ich Menschen genau damit ringen. Sie erklären, ihre Eltern hätten ja nicht anders gekonnt, wären durch den Krieg traumatisiert gewesen oder hätten selbst eine schreckliche Kindheit gehabt. Und deshalb würden sie sie verstehen. Leider verdrängt dieses Verstehen meist das Verständnis für die eigenen Schmerzen und Verletzungen. In dieser Situation greife ich zu einem — zugegebenermaßen drastischen — Beispiel, um klarzumachen, dass man beides darf: wütend sein und leiden und gleichzeitig verstehen, dass die Eltern nicht anders konnten: »Stell dir mal vor, du würdest morgen überfahren und wärst danach querschnittsgelähmt. Der Autofahrer würde zu dir sagen, dass er das nicht gewollt habe und sich jetzt auch ganz schlecht fühle. Würdest du dann nicht mehr leiden und keine Schmerzen mehr haben?«

  • Die Verantwortung für das, was uns als Kindern angetan worden ist, liegt eindeutig bei den Bezugspersonen und nicht beim Kind!
  • Die Verantwortung für das, was wir heute aus unseren Erfahrungen machen, liegt eindeutig bei uns selbst. 

Leben außerhalb des Körpers

Menschen, die früh verletzt wurden, Angst hatten und sich dadurch nie wirklich verkörpert haben, stellen Kontakte eher auf einer energetischen Ebene her als auf einer realen und physischen. Auf dieser Ebene allerdings können sie sehr feinfühlig und oft auch überaufmerksam sein. Das Problem ist, dass sie dabei nicht ihren Körper als zentralen Bezugspunkt nutzen, sondern praktisch außerhalb ihres Körpers »wohnen«. Was bedeutet das?
Es ist ein Phänomen, das sich nur schwer erklären lässt. Wir alle sind von einem Feld umgeben, unserem persönlichen Raum. Diesen fühlen wir nicht bewusst, aber wir merken sehr deutlich, wenn jemand ungefragt dort eindringt. Bei Menschen, die nicht in ihrem Körper sind und diesen nicht als Bezugspunkt haben, der sie in der Materie erdet, vergrößert sich dieser Raum stark, und sie erfühlen weite Bereiche um sich herum. Der Zweck ist die Absicherung vor Gefahren, die auftreten könnten. Je früher solche Menschen fühlen, dass jemand in 30 Metern Entfernung einen Schritt auf sie zu macht, desto schneller können sie auf die vermeintliche Gefahr reagieren. Deshalb befindet sich ihr Stress-System fast konstant in Alarmbereitschaft — der erforderliche Sicherheitsradius ist so groß, dass das System praktisch nie zur Ruhe kommen kann.
Menschen, die wenig verkörpert, aber hochenergetisch leben, bewegen sich in einem Paradox: Einerseits sichern sie das Gebiet um sich herum weitläufig ab, andererseits sind sie nicht fähig, ihren persönlichen Raum ausreichend zu fühlen oder zu schützen. Wie kann sich das ändern?
Der erste Schritt besteht darin, die eigenen Körpergrenzen wirklich zu fühlen und damit diesen Körperraum spüren zu lernen. Ein Raum existiert nur, wenn er eine Begrenzung hat, und diese bedeutet Sicherheit und Klarheit — aber eben auch Begrenztheit. Diese Begrenztheit wird von den meisten Betroffenen als sehr einengend erlebt. Denn für die Verkörperung und all die schönen Dinge, die dadurch auch möglich werden, ist ein Preis zu zahlen. Das Leben wird begrenzter, körperlicher, enger, und auch die eigene Sterblichkeit wird deutlicher. Wo kein Körper ist, ist auch kein Tod.
Der Körper verbindet uns mit dem Leben. Wer überwiegend in einer energetischen, verkopften Welt lebt, hat oft keine Angst vor dem Tod —weil er nie wirklich ins Leben getreten ist. Der Tod ist ein Gefährte, ein Vertrauter -manchmal ein Rückzugsort wie in Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf.
Menschen, die niemals in ihrem Körper angekommen sind, leben häufig in einer dauerhaften Dissoziation. Doch was bedeutet Dissoziation, wenn wir einmal über den Fachbegriff hinausdenken? Dissoziation bedeutet eine Abspaltung, in diesem Fall eine Abspaltung von uns selbst. Viele Menschen beschreiben das als einen Zugang zu einem unendlichen Raum, der neben der Materie existiert. Je nach Glaubensrichtung ist es für einige der Raum, aus dem wir kommen und in den wir wieder zurückkehren, wenn wir sterben. Für andere ist es ein Raum, in dem es keine Zeit gibt und der keine Grenzen hat. Manche beschreiben ihr Sein in diesem Raum wie ein Leben unter einer Käseglocke, andere beschreiben diesen Raum als einen Nebel, der alles dämpft und gleichzeitig vom Leben entfernt.
Beginnt nun eine Verkörperung, so werden die Menschen plötzlich sterblicher und verletzlicher, und das ist nicht immer angenehm. Viele haben Angst, dass sie den Bezug zu diesem unendlichen Raum verlieren, der auch eine Art Zuhause ist. Meist ist das Verhältnis zu diesem Raum zwiespältig. Er bedeutet Schutz und ist gleichzeitig beängstigend, er ist umhüllend und zugleich trennend. Er ist Zuflucht und Heimat und sorgt gleichzeitig für Heimatlosigkeit im Hier und Jetzt.
Die Schilderungen stark traumatischer Erlebnisse weisen Ähnlichkeiten zu den Beschreibungen von Nahtoderfahrungen auf. Es scheint, als würde sich ein Mensch in diesen Augenblicken bereit machen, zu sterben und den Körper zu verlassen. Manch einer findet danach nie mehr den Weg zurück in den weltlichen Körper.
So ist der Preis für die Beheimatung in diesem materiellen Körper das Gefühl, die Angst, eine andere Heimat - einen Schutzraum - zu verlieren. Ich kann allerdings aus eigener Erfahrung sagen, dass es möglich ist, sich den Zugang zu diesem anderen Raum zu bewahren. Entscheidend ist, dass wir die Wahl haben, wo wir sein wollen und nicht Kräften ausgeliefert sind, die wir nicht bewusst steuern können.
Reale Grenzen zu spüren und dann auch gegen andere durchzusetzen, ist für früh traumatisierte Menschen fast unvorstellbar. Deshalb muss es, sobald die Verkörperung begonnen hat, der Körper also mehr als bisher gespürt und »bewohnt« werden kann, unbedingt geübt werden. Anfangs kann das sehr beängstigend sein, weil eine große Menge an Energie aufgebaut werden muss, um sich abzugrenzen oder Nein zu sagen. Das ist für diese Menschen zunächst sehr fremd und ungewohnt, aber es ist unabdingbar, es zu lernen. Sonst verlassen sie ihren Körper bei jeder auch nur scheinbaren Gefahr wieder und fallen zurück in den dissoziativen Zustand.

Bedürfnisse und Sattwerden - der Mangel an Zuwendung und die Folgen (ab Seite 123)

Es ist absolut nicht leicht, einen guten und erwachsenen Umgang mit den eigenen Bedürftigkeiten zu haben oder zu lernen. Die Annahme, dass irgendjemand auf der Welt verpflichtet wäre, sich um unsere Bedürfnisse als Erwachsene zu kümmern, ist eine Ilusion - sobald die Kindheit vorbei ist und unsere EItern diesen Job gut erledigt haben oder auch nicht, ist das Ticket zur andauernden Bedürfnisbefriedigung verfallen. Die Erfüllung unserer Bedürfnisse und das Annehmen-Können dessen, was wir bekommen, hat viel mit unserer Fähigkeit zu tun, uns selbst etwas vom Leben zu nehmen. Wie gut wir das können, hängt davon ab, was wir in der Zeit der zweiten Lernaufgabe erfahren haben. 
Unser Umgang mit der Welt und unseren Erwartungen ist geprägt durch die Art und Weise, wie unsere frühkindlichen Bedürfnisse erfüllt wurden. Wenn wir auf die Welt kommen, brauchen wir Menschen, die uns willkommen heißen und be. schützen. Aber wir haben viel weitreichendere Bedürfnisse, als uns lediglich physisch sicher zu fühlen. In dieser zweiten Phase entscheidet sich, wie wir später im Leben mit unseren Bedürf. nissen umgehen. Als Babys sind wir darauf angewiesen, dass unsere Eltern alle unsere grundlegenden Bedürfnisse befriedigen, damit wir langsam die eigenen Rhythmen finden. 
Bei dieser Lernaufgabe, die sich über die ersten zwei Lebensjahre erstreckt, geht es um die Bedürfnisse und Befindlichkeiten des Kindes. In dieser Zeit lernt es nach und nach, zwischen Bedürfnissen und Gefühlen zu unterscheiden, und fängt an, bestimmten Worten bestimmte Gefühle zuzuordnen. Es entdeckt, dass andere seine Bedürfnisse wahrnehmen und darauf reagieren. Das Kind lernt Ja und Nein zu sagen und diese beiden Wörter nach ihrem Sinn zu unterscheiden. Erleben Menschen in dieser Phase ihrer Kindheit immer wieder Mangel, bilden sich spezifische Muster, die in ihrem späteren Leben deutlich zutage treten. 
Säuglinge sind darauf angewiesen, genährt zu werden, und zwar — wie Menschen überhaupt — auf zweierlei Art: physiologisch durch Essen und emotional durch Zuwendung. Am Anfang unseres Lebens sind diese beiden Nahrungsquellen für uns noch untrennbar miteinander verbunden. Die Zeit der physischen Nahrungsaufnahme sollte deshalb auch eine Zeit des emotionalen Genährtwerdens sein. 
In dem Moment, in dem ein Säugling an die Brust gelegt wird, spürt er den Herzschlag und die Wärme der Mutter. Nahrung ist die Koppelung des liebevollen Kontakts mit dem physischen Sattwerden. Ein Baby sollte sich als der Mittelpunkt der Welt fühlen dürfen, und das hat nichts mit späteren narzisstischen Störungen oder Egozentrik zu tun (das Gegenteil ist so gar der Fall). Es ist wichtig, dass die Bedürfnisse des Kindes relativ zeitnah befriedigt werden, denn nur so kann es die innere Sicherheit entwickeln, dass es Bedürfnisse haben darf und diesen auch entsprochen wird. 
Das Thema des Nicht-Sattwerden-Könnens entsteht, wenn die frühen Lebensumstände durch einen Mangel an Zuwendung geprägt sind. Menschen mit diesem Hintergrund tun sich schwer damit, ihre Bedürfnisse auszudrücken und aufeine selbstverantwortliche Weise im Kontakt mit anderen zu äußern. Die erfahrene Resignation und der erfahrene Mangel haben dazu geführt, dass sie im späteren Leben eine große Sehnsucht verspüren und das Gefühl haben, nicht genug bekommen zu können. Die Grundüberzeugung dieser Menschen lässt sich so beschreiben: »Das Leben ist eine Folge von Mangelzuständen. Es gibt nie genug für alle - und auf keinen Fall für mich!« 

Wenn in der frühen Lebensphase Mangel herrscht, entstehen Glaubenssätze wie: 

  • Ich weiß nicht, was ich brauche.
  • Ich kann nicht. 
  • Niemand ist für mich da. 
  • Es gibt nie genug. 

Aus diesem Grundgefühl heraus bilden sich zwei verschiedene Umgangsformen mit dem erlebten Mangel. Diese sind natürlich nicht bewusst gewählt, aber dennoch sehr nachhaltig. Sie bestimmen den Umgang mit den eigenen Bedürfnissen unter Umständen ein Leben lang. 
Manche Menschen bleiben in dem Gefühl der unerfüllten Bedürftigkeit hängen und suchen ständig nach deren Erfüllung, die sie dann - wenn sie denn einmal erfüllt werden könnte -nicht annehmen können oder die doch gefühlt nie genug ist. Andere wenden sich noch als Kinder irgendwann von jeder Bedürftigkeit ab und verleugnen ihre eigenen Bedürfnisse bis zur Selbstaufgabe. Sie haben sich versprochen, autark zu werden, damit sie nie wieder von jemandem abhängig sind oder um etwas bitten müssen. 
Aus diesen beiden diametral entgegengesetzten Arten, mit dem Mangel umzugehen, entwickeln sich später sehr unterschiedliche Lebensführungen. 

Nicht sattwerden können

Menschen mit diesem Thema reagieren auf Zurückweisung häufig mit Resignation. Da sie meist Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse zu spüren und aktiv für sie einzutreten, fühlen sie sich in ihren Beziehungen oft hilflos und nicht gesehen. Damit stellen sie unbewusst den Zustand wieder her, den sie schon von klein aufkennen. 
Ein weiteres Problem ist, dass solche Menschen lieber schon im Vorfeld auf etwas verzichten, weil es ohnehin nicht genug sein wird und/oder irgendwann zu Ende geht. Das bedeutet, dass Klienten zum Beispiel meine ausgestreckte Hand nicht nehmen, weil ich sie ja irgendwann wieder zurückziehen werde und sie dann ohnehin wieder verzichten müssen und es zu wenig war ... 
Diese innere Logik ist kaum anzufechten, denn natürlich ist jede Zuwendung irgendwann wieder vorüber. Menschen mit diesem inneren Erleben übersehen allerdings, dass sie auf diese Weise nie etwas bekommen und so dafür sorgen, dass sie nie sattwerden. In ihnen lebt eine Hilflosigkeit und Bedürftigkeit, die eine Leere erzeugt, und dadurch fühlen sie sich unausgefüllt und isoliert. Ihr Hang zu inneren Dramen macht den Umgang mit ihnen für andere Menschen nicht immer leicht. 
Diese Menschen müssen lernen, ihre Bedürfnisse zu benennen. Genau das fällt ihnen aber ungeheuer schwer, sie leiden unter Entscheidungsschwierigkeiten. »Ich weiß nicht, was ich will«, gehört zu ihren Standardsätzen. Oftmals sehen sie alle ihre Bedürfnisse auf einmal oder verallgemeinern diese. Die Frage, was genau sie brauchen, ist für Betroffene kaum zu beantworten, denn dies würde voraussetzen, dass sie sich selbst und ihre Bedürfnisse spüren. Das ist aber gar nicht so einfach. 
Tatsächlich können die wenigsten Erwachsenen ihre Bedürfnisse konkret benennen. Wir haben das schlichtweg nie gelernt. Der heimliche Wunsch vieler Menschen an ihren Partner lautet: »Ich möchte, dass du weißt, was ich brauche, ohne dass ich es dir sagen muss, und dass du es mir dann auch gibst!« 
Es macht einen Unterschied, zu sagen, was fehlt oder womit man unzufrieden ist (was vielen auf einer allgemeinen Ebene gelingt) oder konkret zu benennen, was man wirklich braucht, beispielsweise so: »Ich merke, dass ich mich gerade etwas verloren fühle, und würde mir wünschen, dass du mich mal fünf Minuten in den Arm nimmst.« Konkret zu sein bedeutet, sich selbst offenbaren zu müssen. Ein Pionier zum Thema Bedürfnisse äußern war der US-amerikanische Psychologe Marshall C. Rosenberg. Er entwickelte das Konzept der »Gewaltfreien Kommunikation«. Dabei geht es im Kern darum, die eigenen Bedürfnisse formulieren zu lernen und herauszufinden, was man braucht, um diese zu befriedigen. 
Menschen mit der bedürftigen Struktur fällt es sehr schwer, ihre Bedürfnisse auszudrücken. Sie weichen aus oder neigen zu Verallgemeinerungen: »Ich bin immer allein, und niemand ist für mich da.« Oder: »Warum kümmert sich nie jemand wirk. lich um mich?« Wünsche, die auf so allgemeine und unkonkrete Weise formuliert sind, lassen sich tatsächlich nicht erfül. len, und sie schrecken andere Menschen ab. Das Gegenüber hat das Gefühl, aufgefressen zu werden, sobald es dem Bedürftigen den kleinen Finger reicht. Egal, wie viel man gibt, es ist nie ge. nug. Leider führt dies dazu, dass auch wohlmeinende Men. schen im Umfeld des bedürftig strukturierten Menschen sich irgendwann zurückziehen und den Bedürftigen aufs Neue ent. täuschen. 
Ein weiterer Fallstrick in diesem Lebensmuster besteht darin, dass bedürftig strukturierte Menschen sich ein sehr detailliertes Bild davon machen, wie sich etwas anfühlen muss oder wie etwas genau ablaufen sollte, damit es schön ist. Das bedeutet, dass sie in ihren Beziehungen selten wirklich glücklich sind, weil ihre Freunde oder Partner sich nicht an ihr inneres Drehbuch halten. Da kann jemand sich ungeheuer viel Mühe geben, einen romantischen Abend zu gestalten, doch wenn man sich eine andere Vorstellung davon gemacht hat, wird das Ganze innerlich zu einer Enttäuschung. 
Sehr häufig verwechseln diese Menschen Symbiose mit Beziehung und Nähe. Leider wird auch in Filmen und Büchern Symbiose häufig als die wahre Liebe dargestellt. Das erschwert es zusätzlich, ein Bild von Beziehung zu entwickeln, das sich im Leben als tragfähig erweist. 
Ein Weg, wie Menschen mit diesem Muster ihre Bedürfnisse befriedigen — der ihnen allerdings häufig ein Burn-out beschert —, führt über den Umweg, anderen zu helfen. Deshalb finden sie sich häufig in helfenden Berufen wieder. Sie werden gern zu Rettern. Dabei besteht die Gefahr, dass sie nicht die Bedürfnisse des anderen wahrnehmen, sondern ihre eigenen abgespaltenen Bedürfnisse auf ihr Gegenüber projizieren. 
Da sie große Schwierigkeiten haben, sich energetisch aufzuladen und Gefühle in sich zu halten, sehen sie sich selbst oft als energielos und resigniert. Es ist wichtig für sie, trauern zu lernen, die Einsamkeit und die fehlende Zuwendung in ihrer Kindheit zu betrauern. Wenn sie anfangen, diese fehlende Unterstützung anzuerkennen, können sie allmählich lernen, sich selbst zu unterstützen, ihre eigenen Bedürfnisse anzuerkennen und für diese einzustehen. Damit Menschen dieser Struktur sattwerden können, müssen sie lernen, etwas anzunehmen. 
Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas möchte oder ob man es auch annehmen kann. In der Fantasie brauchen Menschen, die lange an Mangel gelitten haben, große Dinge, um endlich das Gefühl von Sättigung und Zufriedenheit zu erreichen - in der Realität jedoch können sie meist nur ganz wenig nehmen, bevor es ihnen zu viel wird. Sie sind ein bisschen wie jemand, der lange gehungert und über Tage oder Wochen nur von Essen fantasiert hat. Führt man so jemanden zu einem Buffet, dann wird er schon nach ein paar Bissen Bauchschmerzen bekommen oder sich übergeben, weil er zu viel in sich hineingestopft hat und die Nahrung gar nicht in dieser Menge aufnehmen kann. 
Genauso verhält es sich mit Menschen, die innerlich in chronischem Mangel gelebt haben. Ihre Vorstellung davon, was sie alles brauchen und wollen, um endlich sattwerden zu können, übersteigt die Realität bei Weitem. Die Abwertung oder Negierung, die rasch einsetzt, wenn Menschen mit diesem Muster etwas bekommen, muss ihnen unbedingt bewusst werden. Sie müssen langsam lernen, zu erkennen, dass der empfundene Mangel Teil der inneren Lebenswelt ist, die immer wieder die Wahrnehmung beeinflusst ... 
Jede noch nicht erfüllte Lernaufgabe birgt ihre eigenen Schätze und Ressourcen. Menschen, die sich mit der zweiten Entwicklungsaufgabe, dem Thema Bedürfnisse und Sattwerden schwertun, sind oft sehr liebevoll und mit der Schönheit des Lebens verbunden. Sie können klar denken und unterstützen andere von Herzen gern. 

Stärke aus Bedürfnislosigkeit schöpfen 

Menschen mit dieser Struktur haben die gleiche Geschichte wie die eben beschriebenen Menschen, aber sie haben eine andere Wahl getroffen, wobei diese Wahl kein bewusster Prozess ist, Sie haben sich gegen das bedürftige Muster entschieden. Sie verleugnen die eigene Bedürftigkeit und lehnen sie ab. Wahrscheinlich hatten sie die Möglichkeit, die anstehende Entwicklungsaufgabe des Nehmens und Sattwerdens im Ansatz zu erfüllen, doch war dies mit so viel Schmerz verbunden, dass sie beschlossen, darauf zu verzichten. Oft ist diese Verleugnung der eigenen Bedürftigkeit dadurch entstanden, dass die Eltern Bedürftigkeit abgelehnt oder ihr Kind dafür gedemütigt haben, dass es etwas brauchte. Solche Menschen haben sich quasi davon verabschiedet, Bedürfnisse zu haben. 

Sie haben viel Misstrauen entwickelt, was den Kontakt zu ihnen zunächst erschwert. Auch Menschen mit diesem Muster »reinszenieren« eine Wiederholung ihrer frühkindlichen Erfahrung, indem sie andere zurückweisen, die ihnen etwas geben wollen, und sich damit immer wieder bestätigen, dass sie nichts bekommen. Auf die frühen Entbehrungen reagieren sie mit Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Es sind diejenigen, die allein durch die Wildnis ziehen oder die Wohnung ohne fremde Hilfe renovieren, um dann stolz zu sagen: »Siehst du, das geht auch allein!« 

Ihre Bedürftigkeit zu spüren, ist für Menschen mit diesem Muster mit sehr viel Angst verbunden, weil sie damit eine große Verletzlichkeit bis hin zum Ausgeliefertsein assoziieren. Sie sind der festen Überzeugung, alles allein machen zu müssen und sich auf niemanden verlassen zu können, weil sie um keinen Preis schwach und abhängig sein wollen. Menschen mit diesem Lebensmuster kann man an folgenden Glaubenssätzen erkennen: 

  • Ich kann für mich selbst sorgen. 
  • Ich brauche keine Hilfe - von niemandem. 
  • Es ist niemand für mich da, ich kann auf niemanden zählen.
  • Egal, wonach ich frage, ich bekomme nie das Richtige. 
  • Wenn ich danach fragen muss, ist es nichts mehr wert. 

Auch Menschen mit dieser Struktur besitzen Ressourcen, die ihnen helfen können, ein gesundes Ich-Gefühl aufzubauen. Sie sind sehr stark, beharrlich und nachhaltig (man könnte es auch stur nennen ...). Sie tragen eine gesunde Skepsis in sich, die ihnen hilft, sich in der Welt zu bewegen und nicht ständig auf den schönen Schein hereinzufallen. Häufig findet man auch hier sehr großzügige Menschen, die gern geben. Dies ist für sie auf jeden Fall sicherer, als etwas anzunehmen. 

Die Falle der Reinszenierungen 

Jede der Lernaufgaben erzeugt eine bestimmte Sicht auf das Leben. Eine der großen und dramatischen Folgen unserer inneren Muster ist es, dass wir die Welt durch eine bestimmte Brille wahrnehmen und den Fokus auf bestimmte, von uns erwartete Ereignisse legen. Das führt zu sogenannten Reinszenierungen, die wir allerdings nicht wahrnehmen können: Wir sorgen mit unserem Verhalten dafür, dass die Menschen um uns herum sich immer wieder so verhalten, wie wir es bereits kennen. 

Mir ist bewusst, dass ich mit solchen Aussagen sehr vorsichtig sein muss, weil sie so verstanden werden könnten, dass wir »selbst schuld« sind an dem, was uns passiert. Deshalb möchte ich an dieser Stelle etwas ausführlicher werden. 

In manchen Büchern und esoterischen Kreisen wird die Ansicht vertreten, dass wir alles, was uns widerfährt, selbst in unser Leben ziehen und dass sich unsere Gedanken in unserem Leben manifestieren. Wir hätten ein wundervolles und gesundes Leben, heißt es, wenn wir nur positive Gedanken aussenden würden. Das Leben wird als schlichte Abfolge von Ursache und Wirkung gesehen: Bin ich lieb, dann sind auch alle lieb zu mir. Ich halte diese Vorstellungen für ebenso naiv wie grausam. Zudem taucht hier meiner Meinung nach das bereits von der Kirche propagierte Thema Schuld wieder auf: Ich bin an allem, was mir passiert, selbst schuld. Und nur, wenn ich mich tadellos verhalte und positive Gedanken habe, gewinne ich den Himmel auf Erden. Jeder Mann, der an Krebs erkrankt, jede Frau, die vergewaltigt wird — sie haben das durch ihre negativen Gedanken angezogen. Diese Ideen sind Lehren für Gewinner! Für diejenigen, denen es weniger gut geht, sind sie eine ungeheure Schuldzuweisung. 

Ich glaube, dass das Leben viel zu komplex ist und viel zu viele Einflüsse auf uns einwirken, als dass es kontrollierbar sein könnte. Das Leben ist so viel größer, als wir es erfassen können, und da hilft manchmal ein bisschen Demut, um zu verstehen, dass wir nicht alles in der Hand haben oder beeinflussen können. 

Menschen bekommen schwere Krankheiten oder haben Unfälle, und Leiden gehört leider zum Leben dazu. Bücher, die sich im Rahmen des »Wünsch dir was«-Zirkus bewegen, richten ungeheuer viel Schaden an. Ich hatte schon viele Frauen vor mir sitzen, die überzeugt waren, dass sie etwas falsch gemacht hatten, sonst wären sie nicht vergewaltigt worden. Ich könnte jedes Mal ausflippen.

Zurück zum Begriff der Reinszenierung, der mit Schuld ahts zu tun hat. Vielmehr geht es darum, dass es psychologische Mechanismen in uns gibt, die unsere Wahrnehmung beeanflussen. Wir agieren aufgrund unserer Wahrnehmung und der darauffolgenden Interpretation einer Situation. Das Problem ist, dass wir aufgrund unserer Geschichte ein Priming, eine Vorgestimmtheit haben, was wir wie sehen und interpretieren. Das bedeutet, dass wir nichts wertfrei wahrnehmen. Bestimmte Interpretationen von Wahrnehmungen liegen für uns viel näher als andere, ohne dass uns dies bewusst ist. Hinzu kommt, dass wir uns selbst immer als Reagierende erleben und nicht als Agierende, zumindest was Konflikte oder Interaktionen angeht. Es ist sehr selten, dass wir uns selbst als die Initiatoren von Konflikten wahrnehmen - das sind meist die anderen.

Diese beiden großen blinden Flecken in unserer Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Welt führen dazu, dass wir bestimmte Reize in unserer Umgebung stärker wahrnehmen als andere. Sind Menschen zum Beispiel misstrauisch und haben die Überzeugung, dass man niemandem trauen kann, weil alle Menschen sie irgendwann enttäuschen - wie wahrscheinlich ist es, dass Situationen eintreten werden, die diese Überzeugung bestätigen? Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit liegt bei 100 Prozent. Jeder Mensch, auch meine liebsten Freundinnen und Freunde, werden mich irgendwann mal verletzen oder enttäuschen, ebenso wie ich sie. Das gehört zu Beziehungen dazu. Misstrauische Menschen mit dieser Struktur suchen jedoch nach Bestätigung für ihre Überzeugung: »Wussteich es doch! Selbst meinen Freunden kann ich nicht trauen!«

Daraus ergibt sich das Gefühl, immer wieder die gleichen Erfahrungen zu machen. Menschen, die glauben, dass man niemandem trauen kann, nehmen aufgrund des Primings die hundert Begebenheiten und Begegnungen mit anderen Menschen nicht wahr, die schön und gut waren. Wir hätten deutlich weniger Probleme im Leben und mit unseren Kindheitserlebnissen, wenn neue Erfahrungen per se heilsam wären. Wir alle haben tausend Mal erlebt, nicht geschlagen, misshandelt, gedemütigt oder unfreundlich behandelt zu werden. Das Problem ist, es kommt nicht wirklich bei uns an. Die neuen Erfahrungen durchdringen aus irgendeinem Grund nicht den Nebel der alten Verletzungen. Im zweiten Teil des Buches werde ich darauf noch näher eingehen. 

Sucht und Depression 

Menschen, bei denen die zweite Lernaufgabe nicht gut verlaufen ist, haben gelernt, sich ihrer Wünsche und Bedürfnisse zu schämen. Sie fühlen sich unerfüllt und leer. Suchtverhalten ist sehr häufig darauf zurückzuführen, dass Menschen diese tiefe Sehnsucht in sich spüren und keinen Weg finden, sie zu befriedigen. Die Sehnsucht geht aufeinen Mangel an Anbindung, Liebe und Genährtwerden zurück. Sind wir erst einmal erwachsen, ist es schwer, diesen grundlegenden Mangel zu beheben. Es ist die Sehnsucht nach vollkommener Liebe, danach, umsorgt zu werden. Wenn uns dies nicht im Kindesalter zuteilgeworden ist, werden wir unsere Sehnsucht leider nie erfüllt bekommen. Partner und Freunde können diesen tiefen Hunger in uns nie vollständig stillen. Unsere Aufgabe ist es, zu lernen, auch mit dem, was wir heute bekommen, glücklich zu sein und gleichzeitig zu lernen, gut für uns zu sorgen. Suchttendenzen beruhen meist auf unerfüllten Bedürfnissen, die sich mit einer vagen Sehnsucht vermischen. Der Wunsch nach vollkommener innerer Zufriedenheit und Erfüllung, aber auch der Wunsch nach Betäubung des damit verbundenen Schmerzes wird dann in der Sucht zu erfüllen versucht. 

Mit Süchten meine ich hier übrigens nicht nur die traditionell als Sucht bezeichneten Verhaltensweisen wie Alkoholismus oder Drogensucht. Ich meine ebenso unsere Sucht nach Ablenkung, Zucker, Zigaretten, Einkaufen, Sex, Arbeit oder Sport - es gibt viele Spielarten von Sucht, die in unserer Gesellschaft vollkommen normal sind. 

Eine Depression hat meiner Meinung nach vier Ursachen. Grundlegend ist sie ein Ausdruck von mangelnder Selbstregulation: Eine Person fällt immer wieder nach unten aus dem Toleranzfenster. Außerdem finden wir hier Menschen, die ihre Bedürfnisse wenig fühlen und noch weniger äußern und erfüllen können (deshalb erwähne ich die Depression in diesem Kapitel). Darüber hinaus ist unterdrückte Wut oder besser ausgedrückt die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, für sich selbst einzustehen und Nein sagen zu können, ein Thema. Hinzu kommt nicht gefühlte und gelebte Trauer. Trauer ist eine der wichtigsten Emotionen, um sich verändern zu können. Ohne Trauer gibt es keinen Neuanfang. Halten wir alte Trauer über erlittene Verletzungen in uns verschlossen und haben nie Mitgefühl mit uns, so kann uns das niederdrücken - manchmal bis in die Depression. 

Hilfe annehmen können - mit Unterstützung die Welt entdecken (ab Seite 135)

Ende des ersten oder Anfang des zweiten Lebensjahres vollzieht sich eine große Veränderung: Das Baby beginnt zu krabbeln und dann zu laufen. Die Bedeutung dieses Schritts ist immens, da sich nun der Radius und das Blickfeld des Kindes radikal verändern. Bereits durch die Fähigkeit, sich auf den Bauch zu drehen und den Kopf zu heben, hatte sich seine gesamte Perspektive ein Stück weit ausgedehnt.

Die Welt ist plötzlich groß geworden, und das Kind ist nicht mehr nur darauf angewiesen, wer oder was in seinem Blickfeld »erscheint«. Es wird »unabhängiger«. Es beginnt mehr und mehr, sein Umfeld zu erforschen und braucht dabei Unterstützung. Es braucht Hilfe zur Selbsthilfe, um zunehmend mehr Aufgaben eigenständig zu bewältigen. Diese Phase währt bis zum vierten Lebensjahr und überlappt sich mit anderen Entwicklungsaufgaben.

Mit dem Übergang zum Krabbeln verändert sich zunehmend die Kommunikation zwischen den Bezugspersonen und dem Kind. Es hört viel öfter als jemals zuvor ein Nein.

In dieser Zeit stellen sich dem Kind weitere wichtige Entwicklungsaufgaben: 

  • Die Welt entdecken. Das Kind wird neugierig, dieses Gefühl führt es in die Welt. Ist es sicher gebunden, wird es ein immer größeres Explorationsbedürfnis an den Tag legen und sich auch durch kleinere Frustrationen nicht davon abhalten lassen, immer Neues auszuprobieren und zu entdecken.
  • Zwischen Gefühlen und Aktivitäten unterscheiden. Das Kind lernt nach und nach, Gefühle und Aktivitäten zu unterscheiden. Es kann eine Aktivität benennen, auch ohne dass es diese ausübt. Ebenso lernt es, Gefühle voneinander zu unterscheiden.
  • Wörter mit Objekten verbinden. Das Kind lernt, Objekten Wörter zuzuordnen und diese zu unterscheiden. Damit fängt es an, ein abstrakteres Verständnis der Welt zu entwickeln.
  • Körperausscheidungen kontrollieren. Das Kind lernt, zu spüren und zu benennen, wenn Harndrang auftritt und Stuhlgang sich ankündigt. Es lernt dann mithilfe der Eltern, die Toilette zu benutzen.
  • Hilfe brauchen, um Dinge selbst zu tun. Das ist für uns an dieser Stelle der wichtigste Punkt. Das Bedürfnis nach Hilfe ist ein elementares für unser ganzes Leben, und die Art, wie wir es als Kleinkinder erfahren haben, prägt unseren Umgang und unsere Überzeugungen für unser späteres Leben.
  • Kausale Verbindungen (Ursache — Wirkung) wahrnehmen. Das Kind lernt immer mehr, die Wirkung einer Handlung wahrzunehmen, und beginnt, zwei voneinander getrennte Ereignisse miteinander zu verknüpfen: Ich ziehe an der Tischdecke, und dann fällt das Geschirr herunter.
  • Die eigenen Gefühle in Besitz nehmen. Auch dieser Punkt in der Entwicklung ist von elementarer Bedeutung, um zu verstehen, worauf bestimmte Verhaltensmuster zurückgehen. Das Kind lernt, dass es eigene Gefühle hat und dass diese sich von den Gefühlen anderer unterscheiden können. Wenn diese Phase gut für das Kind läuft, lernt es, dass es ein Recht auf eigene Gefühle hat.

Bevormundung statt Hilfe zur Selbsthilfe 

Ein Kind, das langsam seinen Bewegungsradius erweitert, indem es krabbeln und dann laufen lernt, und seinen Handlungsspielraum vergrößert, indem es mehr und mehr Dinge ausprobiert, ist immer wieder auf Hilfe angewiesen. 

Eltern haben sehr unterschiedliche eigene Verhaltensmuster, die in dieser Phase von ihrem Kind angesprochen oder ausgelöst werden. Gerade in Deutschland legen Eltern immer noch großen Wert darauf, ihr Kind nicht zu »verwöhnen« und lehnen es häufig ab, es als abhängig oder bedürftig anzunehmen. Diese inneren Muster haben große Auswirkungen darauf, wie Eltern mit dem zunehmenden Explorationsverhalten ihres Kindes umgehen. 

Wir müssen uns klarmachen, dass das Kind bis zu diesem Zeitpunkt zwar anstrengend sein konnte, indem es schrie, aber in erster Linie als »süß« gesehen wurde und sich unter der absoluten Kontrolle der Eltern befand. Nun entwickelt es jedoch einen eigenen Willen und möchte Dinge, die seine Eltern vielkeicht nicht gutheißen, die ihnen sogar gegen den Strich gehen oder einfach auch gefährlich für das Kind sind. Das Kind wird jetzt immer deutlicher als eigenständiger Mensch erkennbar und entdeckt seine eigene Welt. Gleichzeitig ist es immer noch vollkommen auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, um Aufgaben zu bewältigen. Diese beiden sich scheinbar widersprechenden Pole müssen von den Eltern gesehen und unterstützt werden, und das oft gleichzeitig. 

Menschen, die selbst viel Liebe, Sicherheit und Unterstützung erfahren haben, fällt das vermutlich nicht schwer. Sie helfen ihrem Kind, wo es Hilfe braucht. Sie zeigen, dass sie da sind und als sicherer Hafen zur Verfügung stehen. Eltern mit unsicherer Bindung und einem übersteigerten Bedürfnis nach Autonomie reagieren jedoch unter Umständen anders auf diese Phase und die Bedürfnisse des Kindes. Meist bewegt sich das Verhalten dieser Eltern zwischen zwei Polen: Manche unterstützen das Kind zwar in seiner Unabhängigkeit, signalisieren ihm aber, dass es jetzt schon »groß« sei und sich nicht »anstellen« solle. Sie geben dem Kind also Wertschätzung für seine Unabhängigkeit, demütigen es aber gleichzeitig für seine Bedürftigkeit. Das Kind lernt, dass es toll ist, wenn es etwas kann und selbstständig tut. Es macht jedoch die Erfahrung, dass es schlecht zu sein scheint, wenn es etwas braucht, bedürftig oder anhänglich ist. 

Auf der anderen Seite gibt es Eltern, die die Gefühle des Kindes ignorieren oder, wenn das Kind um Unterstützung bittet, die Aufgabe selbst übernehmen, statt ihm zu helfen. Da ist zum Beispiel der Vater, der sein Kind nicht dabei unterstützt, mit den Bauklötzen einen Turm zu bauen, sondern ihm zeigt, wie man das »richtig« macht und ihm alles aus der Hand nimmt. Das Kind erlebt in solchen Momenten Überwältigung und Hilflosigkeit, da ihm die eigene Erfahrung und die damit verbundenen Gefühle genommen werden. 

In dieser Phase kann es auch dazu kommen, dass das Kind einem Elternteil »zugesprochen« und in eine Allianz verführt wird. Der Junge wird zu Mamas kleinem Liebling, Retter und Beschützer. Das Mädchen wird Papas Prinzessin. Die Kinder werden so in eine Position gebracht, die ihnen weder zusteht noch guttut. Sie werden künstlich erhöht, was an sich sehr schmeichelhaft ist, in Wahrheit aber keine elterliche Liebe bedeutet. Manchmal werden Kinder als Ersatzpartner benutzt, oder sie müssen, wenn die Partnerschaft der Eltern nicht gut ist, ständig zwischen den Fronten schlichten. 

Diese Überhöhung (und gleichzeitige Verletzung) führt dazu, dass das Kind sich bemüht, die ihm zugewiesene Rolle auszufüllen, und versucht, sich größer zu machen, als es ist. Es verliert den Kontakt zu seinem Kindsein und seiner eigenen Realität. Das Problem besteht darin, dass es belohnt wird, wenn es groß und erwachsen tut, und gedemütigt, wenn es ein Kind ist. »Sei doch kein Baby« ist ein Satz, der vielen bekannt sein dürfte. Das Kind lernt, zu tun und zu machen, um von seinen Eltern Anerkennung zu bekommen. Im Grunde wird es vollkommen allein gelassen.

Innere Leere durch falsche Spiegelung 

Ein Kind, das ständig Anforderungen erfüllen muss, mit denen es überfordert ist, und entweder für seine Hilfsbedürftigkeit gedemütigt und herabgewürdigt oder nur dann gelobt wird, wenn es so tut, als könne es etwas schon, entwickelt ein vollkommen falsches Selbstbild. Häufig findet man bei Menschen mit dieser Geschichte eine sehr unzureichende Spiegelung in der Kindheit. 

Spiegelung bedeutet, dass ich von meiner Umwelt eine Rückmeldung auf mich und mein Verhalten bekomme. Geben Bezugspersonen nur eine oberflächliche Spiegelung, wie beispielsweise: »Das hast du aber gut gemacht!«, oder spiegeln ausschließlich positive Handlungen, so lernt das Kind, dass es nur gesehen wird und etwas wert ist, wenn es etwas leistet. Es ist eine völligandere Aussage und fühlt sich völlig anders an, wenn jemand zu uns sagt: »Es ist schön, dass es dich gibt.« Oder: »Ich freue mich immer, dich zu sehen.« Hier bekommen wir eine Spiegelung, eine Rückmeldung über unser Sein und nicht über die Qualität unseres Seins oder Handelns. Menschen, die diese wichtigen Rückmeldungen selten oder gar nicht bekommen haben, identifizieren sich stark über ihr Handeln. Sie verstehen unter Beziehung, dass man etwas zusammen macht. Sie haben nur eine Spiegelung für ihr Tun bekommen und wurden darüber entweder erniedrigt oder überhöht. 

Es gibt auch Spiegelungen, die aus »Nachlässigkeit« geschehen. Die Eltern beurteilen beispielsweise ein Bild, das ihr Kind gemalt hat, ohne sich wirklich Zeit für die Betrachtung zu nehmen oder sich erklären zu lassen, was darauf zu sehen ist. Stattdessen loben sie das Bild in den höchsten Tönen, ohne dass sie dabei Kontakt zudem Kind aufnehmen. 

Menschen, die in ihrer Kindheit nur über ihr Tun und nicht über ihr Sein gespiegelt wurden, mussten viel zu früh erwachsen werden. Ihnen wurden Verantwortlichkeiten übertragen, für die sie noch viel zu jung waren. Häufig mussten sie eine Rolle erfüllen, die sie überforderte. In der Folge haben sie den Kontakt zu sich selbst und ihrem wirklichen Ich verloren. Sie haben keinen Zugang mehr zu ihren echten Gefühlen — und manchmal auch nicht zu ihrer eigenen Realität. Durch den Verlust oder das Nicht-Vorhandensein echten Kontakts und echter Spiegelung konnte das Kind kein authentisches Selbstbild entwickeln. Es hat sich der Spiegelung angepasst, die ihm entgegengebracht wurde.

Im Erwachsenenalter zeigen sich die Folgen. einer solchen Erziehung darin, dass Menschen »eine Show abziehen«. Es fällt ihnen schwer, hinter die eigene Fassade zu schauen, manchmal haben sie sogar das Gefühl, ein »Fake« zu sein, ein Schwindel. Wie sehr sie sich auch bemühen oder wie viele Dinge sie auch gelernt haben, innerlich denken sie trotzdem, sie würden der Welt etwas vormachen. 

Sie haben große Angst, gedemütigt zu werden, wenn sie jemandem erlauben, hinter die Fassade zu schauen und ihre Hilfsbedürftigkeit und Unsicherheit zu entdecken. Deshalb ist es für andere nicht leicht, wirklich Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Diese Menschen haben auch große Angst, die Kontrolle abzugeben, weil sie erwarten, dann überwältigt oder benutzt zu werden. Ihre Verletzlichkeit und Bedürftigkeit wurden in der Kindheit immer gegen sie eingesetzt, und so vermeiden sie möglichst, diese zu zeigen. Das macht tiefere Beziehungen sehr schwierig. In Liebesbeziehungen wird der Partner oder die Partnerin oft das Gefühl haben, eine Statistenrolle einzunehmen und nicht wirklich nah mit dem anderen verbunden zu sein. 

Menschen mit falschen Spiegelungen in der Kindheit tragen häufig eine maßlose Furcht vor dem inneren Loslassen in sich, Lassen sie doch los, fallen sie in eine tiefe Leere, die so dunkel und mit Angst besetzt ist, dass sie alles tun, um ihr auszuwei. chen. Die tiefe Verletzung, die sie in sich tragen, ist nichts ande. res als die frühe Erfahrung von Hilflosigkeit. Diese war so be. ängstigend, dass sie sie in ihrem tiefsten Inneren verstaut haben, Sobald sie durch ein Ereignis erneut mit dieser Hilflosigkeit in Kontakt kommen, tut sich der Boden unter ihnen auf, und sie fühlen die alte Angst und den alten Schrecken. Ohne Unterstützung ist das nur schwer auszuhalten. Dennoch »funktionieren« diese Menschen im Alltag meist bestens und können kaum zur Ruhe kommen. Also machen und tun sie weiter, bis sie irgendwann nicht mehr können und gezwungen sind, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In einem Seminar brachte eine Teilnehmerin um die 50 das einmal sehr treffend auf den Punkt: »Ich habe alles erreicht - eine funktionierende Ehe, Kinder, gesellschaftlichen Erfolg, ein Haus -, und ich bin erfolgreich im Beruf. Und es geht mir elend, ich fühle mich leer und depressiv.« 

Menschen, die gut »funktionieren«, merken oft erst nach Jahren, dass etwas schiefgelaufen ist. Unsere Gesellschaft fördert und belohnt alle, die so tun als ob und sich über Status und beruflichen Erfolg definieren. Menschen mit dieser Struktur suchen selten Hilfe. Häufig erst dann, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht, ihre Ehe gescheitert ist, sie Gefahr laufen, ihre Arbeit zu verlieren oder wenn sie im Burn-out sind. Wer das Pech hat, nicht so gut zu »funktionieren« - oder, wie ich es nenne, die Gnade des Nichtfunktionierens erfährt -, sucht meist viel früher Hilfe, weil er oder sie spürt, dass etwas nicht stimmt. 

Ich erinnere mich an ein Seminar über »Work-Life-Balance«, das ich einmal geleitet habe. Dort gab es einige Vertreter dieser Struktur, die dadurch auffielen, dass sie immer wieder versuchten, die Seminarinhalte zu verflachen und möglichst keine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen oder Bedürfnissen zuzulassen. Wenn es ihnen unangenehm wird, verwenden Menschen mit diesem Hintergrund typischerweise zwei verschiedene Strategien: Entweder wirken sie auf einmal abgelenkt, schauen an ihren Gesprächspartnern vorbei und fokussieren auf etwas vollkommen anderes, oder sie wechseln sehr dominant das Thema. 

In dem besagten Seminar gab es zwei sehr ausgeprägte Vertreter dieser zweiten Strategie. Diese beiden Alpha-Männer versuchten immer wieder, abzulenken oder die Thematik lächerlich zu machen. 

Beim Mittagessen wurde ich dann zu meinem fachlichen Hintergrund befragt. Ich beschloss, die Gruppe ein bisschen zu verunsichern, damit etwas Neues entstehen konnte. Ich berichtete von meiner Grundausbildung in Körperorientierter Psychotherapie und erklärte, dass man unter anderem am Körper von Menschen sehen könne, wie sie gestrickt seien und was in ihrer Geschichte nicht optimal gelaufen sei. Daraufhin herrschte erst einmal Schweigen. 

»Dann erzähl doch mal was über mich!«, forderte eine Frau in provozierendem Ton. 

»Willst du das wirklich, hier öffentlich beim Mittagessen?«, fragte ich. 

»Ja, ja, kein Problem.« 

»Ich glaube, dass deine Geburt sehr schwierig war.« Schweigen. »Stimmt das oder nicht? Ich könnte ja auch falsch liegen.« 

»Ich bin bei der Geburt fast gestorben«, antwortete die Frau. »Das kann man wohl als schwierig bezeichnen.« 

Am Ende der Mittagspause sprach mich einer der AlphaMänner an, nennen wir ihn Jens. »Und was ist bei mir los?« 

Ich lächelte ihn an. »Ich denke, du versuchst, auf Teufel komm raus alles in deinem Leben allein hinzubekommen. Du würdest erst um Hilfe bitten, wenn du kurz vor dem Absaufen bist und alles Mögliche richtig vor die Wand gefahren hast.« 

Am Schluss der Veranstaltung bat ich darum, dass mich je. mand zum Bahnhof fahren möge. Der zweite Alpha-Mann, nennen wir ihn Hans, sprang auf und erklärte allen im Raum. »Das mache ich!« Im Auto stellte er eine Konferenzschaltung zu Jens her, der mich in der Pause angesprochen hatte. Die. ser bestätigte meine Aussagen und sagte, er suche gerade einen Therapeuten. Seine Frau habe ihn verlassen und alles gehe den Bach runter. Er sei auf der Suche nach einer Therapie und wolle von mir noch einiges wissen über sich selbst und welchen Weg er einschlagen könne. 

Ich hoffe, die beiden Männer sind auf diesem Weg geblieben und haben passende Hilfsangebote gesucht und gefunden.  

Selbstständigkeit und Verbundenheit – was geschieht, wenn Kinder nicht in ihre Kraft gehen dürfen (ab Seite 144)

Die vierte Lernaufgabe stellt sich uns im Alter zwischen anderthalb und vier Jahren. In dieser Zeit lernen Kinder viele wichtige und neue Dinge. Sie werden wesentlich selbstständiger, erweitern ihren Umkreis und probieren sich aus. Parallel dazu geschieht der Aufbau eines Gefühls für die eigene Selbstwirksamkeit. Damit ist gemeint, wie sehr ein Mensch das Gefühl hat, die Umwelt durch eigene Kraft positiv verändern oder beeinflussen zu können. Man kann sagen, dass Selbstwirksamkeit ein wichtiges Gefühl - eigentlich eine Fähigkeit - ist, die viel zum subjektiv empfundenen Lebensglück beiträgt. 

Das Gegenteil von Selbstwirksamkeit ist die sogenannte erlernte Hilflosigkeit. Dieser Begriff wurde von dem Psychologen Martin Seligman geprägt, der bei Experimenten mit Hunden immer wieder ein bestimmtes Verhalten beobachtete. Bei den Experimenten setzte er den Käfigboden der Hunde unter Strom. Ein Teil der Tiere konnte über eine kleine Hürde springen und gelangte so in einen Teil des Käfigs, dessen Boden nicht unter Strom stand. Diese Hunde konnten also aktiv entkommen. Einem anderen Teil der Versuchstiere war das nicht möglich. Sie mussten den unangenehmen Stromstoß aushalten, bis er vorbei war. Irgendwann wurden auch diese Hunde in Käfige gesetzt, in denen sie durch einen Sprung über eine kleine Hürde dem Strom hätten entkommen können. Aber sie taten es nicht - sie kauerten auf dem Boden, bis der Schmerz vorbei war. Die Hunde erstarrten sozusagen und unternahmen nichts mehr, um aktiv ihrem Leiden zu entkommen. 

Ein solches Verhalten zeigen leider auch Erwachsene, deren Kindheit traumatisch verlaufen ist. Sie haben gelernt, dass sie keine Selbstwirksamkeit besaßen und gegen die von außen kommende Überwältigung nichts tun konnten. Sie realisieren nicht, dass es heute, wo sie erwachsen sind, anders ist und sie viele Möglichkeiten hätten, ihr Leben zu ändern. Darin liegt eine große Tragik für die Betroffenen und oft auch für ihr Umfeld. 

In die Zeit dieser Lernaufgabe fällt auch die Trotzphase, in der Kinder nicht mehr zu fast allem Ja sagen, sondern eigene Entscheidungen treffen und ihre Kraft ausprobieren wollen. Nein ist ein ungeheuer wichtiges Wort für uns, denn es bedeutet, sich gegen andere abzugrenzen. Wir brauchen ein Nein, um Ja sagen zu können. Meine erste Ausbilderin in Transformativer Körperpsychotherapie sagte einmal: »Das Nein zu den Anderen ist das Ja zu sich selbst.« Wenn wir Nein sagen, lernen wir, uns als Ich zu spüren. 

Als Säuglinge haben wir kein abgegrenztes Ich, wir sind Teil unserer Bezugspersonen und verschmelzen mit ihnen und un. serer Umwelt. Erst das aktive Nein schenkt uns mehr und mehr ein Gefühl für uns selbst. Ich bin nicht du, du bist nicht ich, Ich möchte etwas anderes als du, und das ist in Ordnung - das sind wichtige Schritte zur Entwicklung eines gesunden Selbstgefühls. 

Wird dieses Nein und damit die Kraft des Kindes in dieser Zeit gebrochen, so ergeben sich daraus später verschiedene Leensmuster, mit denen Menschen zu kämpfen haben und unter denen sie leiden. Diese Muster entstehen, weil die Mütter dieser Kinder Schwierigkeiten haben, ihr Kind selbstständig werden zu lassen. Sie versuchen, es an sich zu binden, indem sie die Welt als einen gefährlichen Ort darstellen. Oder sie reden dem Kind Schuldgefühle ein, wenn es etwas allein machen will: »Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht zurückzukommen.« Oder: »Geh du nur spielen, ich schaffe das schon irgendwie allein.« 

Das Kind muss also seine eigenen Impulse und die eigene Kraft unterdrücken, um die Beziehung nicht zu verlieren. Das Explorationsverhalten, die Neugier und die Lust des Kindes, die Welt zu entdecken, werden eingeschränkt zugunsten der Beziehung. 

Häufig haben wir hier auch eine nach außen und auf Aufgaben orientierte Erziehung vor uns. Das Kind wird materiell und physisch gut versorgt — oder sogar überversorgt -, darf aber nicht zu laut, zu wild, zu selbstständig sein. Es lernt, dass es für das Wohlergehen von Mama zuständig und daran schuld ist, wenn es ihr nicht gut geht. Das Kind darf nicht spontan und frei agieren, da die Mutter sonst mit Liebesentzug reagiert. Sie »fühlt sich schlecht« und macht das Kind für ihren Zustand verantwortlich. Das Kind wird zwar nicht körperlich bestraft, dafür aber mit moralischem Druck, Leidens- und Schuldgefühlen erzogen. So kann es seine Wut nie offen zeigen und muss seine Energie immer unter Kontrolle halten, sonst folgen Beschuldigungen, Demütigungen oder Liebesentzug. Das Kind lernt: Liebe hat immer einen Preis, den es zu zahlen gilt. »Nur wenn ich mich selbst verleugne, bekomme ich Liebe«, ist der Glaubenssatz von Menschen mit dieser Struktur.

Wie bereits bei den anderen Strukturen finden wir auch hier große Ressourcen, trotz — oder wegen — der einschränkenden Erfahrungen. Diese Menschen sind sehr humorvoll, freundlich und zugewandt. Unter dieser Freundlichkeit, deren Echtheit ich nicht bezweifle, verbirgt sich allerdings noch eine andere Seite: ein Berg aus Wut und Trotz, der sich im Alltag und in Beziehungen eher durch Boykott als durch offene Konflikte zeigt. Es sind diejenigen Menschen, die Ja sagen und dann leider vergessen, den Müll nach unten zu bringen. Sie haben eine Engelsgeduld und können Dinge einfach aussitzen, die andere in den Wahnsinn treiben würden.

Auf der anderen Seite neigen Menschen mit diesem Thema zur Selbstaufgabe. Sie tun alles, damit sie anderen gefallen, und gehen zur Arbeit, obwohl sie wirklich krank sind. Sie neigen dazu, sich zurückzuhalten, weil sie überzeugt sind, verlassen zu werden, wenn sie ihre Kraft und Lebensfreude ausleben würden. 

Ein großes Thema dieses Lebensmusters ist ein Grundgefühl von Schuld. Hier findet man Menschen, die sich schuldig dafür fühlen, dass es gerade regnet. Sie hören Vorwürfe und Appelle in Formulierungen, die eigentlich nur eine Aussage sind. Ihre Schuldgefühle sind leicht hervorzurufen, und es fällt ihnen extrem schwer, in solchen Momenten trotzdem bei sich zu bleiben und ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen. Diese Form der Selbstverleugnung kann extrem sein und viel Leid mit sich bringen. 

In einer Gruppe habe ich einmal mit einer Teilnehmerin zum Thema Abgrenzung gearbeitet. Ich versuchte, ihr zu verdeutlichen, dass sie mit ihrem Leben anfangen könne, was sie wolle, und sich nicht immer erst vergewissern müsse, was jemand anders will. Zur Verdeutlichung legte ich meine Hand auf ihr Knie und sagte, dass sie ja wohl äußern könne, wenn sie das nicht möchte, Sie fing fast an zu weinen und erklärte: » Aber ich muss doch erst schauen, ob dir das gefällt, deine Hand da zu haben, und ob ich dich mit der Zurückweisung nicht verletze.« 

Mit dieser Art zu denken sitzt man in einem Gefängnis. Man kommt nicht heraus, weil es immer Menschen geben wird, die von der einen oder anderen Entscheidung, die wir treffen, nicht begeistert sind oder sich gar verletzt fühlen. Aber es ist im Leben unumgänglich, andere Menschen auch einmal zu enttäuschen — du bist anders als ich! Und es ist nicht sinnvoll, am Ende des Lebens auf dem Grabstein stehen zu haben: »Er/sie hat alle glücklich gemacht — außer sich selbst.« 

Leider kommt oft noch hinzu, dass die Betroffenen in ihrer Kindheit nichts wirklich einfach mal ausprobieren durften. Ihnen wurde das Gefühl vermittelt, dass sie alles von Anfang an können müssten. So ist Lernen für sie grundsätzlich mit einem Gefühl von Scham verbunden, und sie fühlen sich neuen Aufgaben nicht gewachsen. Ihre Glaubenssätze lauten: 

  • Alles, was ich tue, bin ich (keine Unterscheidung zwischen Person und Verhalten).
  • ist meine Schuld.
  • Egal, was ich tue, es ist nicht richtig.
  • Wenn ich meine Energie rauslasse, dann zerbricht etwas in mir oder anderen.
  • Ich muss mich aufgeben, um jemandem nahe zu sein.

Wie immer finden sich auch hier große Ressourcen und wunderbare Persönlichkeitsmerkmale, die hilfreich und förderlich sind. Diese Menschen sind oft sehr humorvoll. Sie können gut über sich selbst lachen und gewinnen auch den dunkelsten Seiten des Lebens noch etwas Lustiges ab. Natürlich beinhaltet diese Strategie auch eine Flucht vor schmerzhaften Gefühlen, aber sie ist dennoch eine riesige Ressource, um mit Spaß und zeitweiser Leichtigkeit durch das Leben gehen zu können. Menschen mit diesem Thema sind hingebungsvoll, selbstkritisch, freundlich und warmherzig. Sie sind loyal, gründlich, verlässlich und können tief lieben. 

Einer der größten Fallstricke für Menschen mit diesem Lebensmuster ist - neben der Schuld - ihr ständiges »Ja, aber ...« Damit verbauen sie sich viele Wege und können ihr Gegenüber bisweilen fast um den Verstand bringen - auch mich als Therapeutin. Egal, was man re oder welche Möglichkeiten man aufzeigt: »Ja, aber ...«. Es ist ein steiniger Weg, zu lernen, dass man viele Dinge ausprobieren muss, um wirklich zu wissen, ob sie funktionieren oder nicht. Wir glauben oft, wir könnten Dinge voraussehen oder im Vorhinein fühlen. Genau solche Vorstellungen hindern uns aber häufig daran, neue Erfahrungen zu machen - wie kann jemand, der noch nie im Wasser war, einschätzen, wie es sich anfühlt, zu schwimmen? 

Eine weitere Falle ist die Angewohnbheit, innerlich immer alles zu bewerten. Durch die Erfahrung, ununterbrochen bewertet worden zu sein, haben wir gelernt, dass die Welt in falsch und richtig unterteilt ist, und daraus wird ein Muster. Obwohl wir als Kind unter den ständigen Bewertungen gelitten haben, bewerten wir als Erwachsene nahezu ununterbrochen nicht nur andere, sondern auch uns selbst - und merken es (hoffentlich) irgendwann. Ein Teil unserer Persönlichkeit, der innere Kritiker, ist hochaktiv und sondert pausenlos seine Kommentare ab. Das macht das Leben sehr anstrengend und erstickt immer wieder den Impuls, etwas auszuprobieren oder anders zu machen als bisher. 

Grundsätzlich sind Bewertungen völlig normal. Wir müs sen Einschätzungen vornehmen, um uns im Leben zurechtzufinden. Unser Gehirn ist eine Bewertungsmaschine: angenehm - unangenehm, hin — weg, interessant - uninteressant und so weiter. Wir loten aus, damit wir uns orientieren können und ein Gefühl von Kontrolle über unser Leben haben. Es ist kaum möglich, aus diesen inneren Bewertungen auszusteigen. Doch es ist wichtig, dass wir mit der Zeit lernen, unsere eigenen Einschätzungen nicht immer allzu ernst zu nehmen oder uns gar damit zu identifizieren. Wir können üben, damit umzugehen wie mit einem übereifrigen Wachhund: Wir nehmen das Gebell zwar zur Kenntnis, rufen aber nicht jedes Mal sofort die Polizei, sondern schauen erst mal, was auf uns zukommt. 

Menschen, bei denen diese Muster sehr ausgeprägt sind, sollten die Erfahrung machen dürfen, dass es möglich ist und sein darf, zwei vollkommen unterschiedliche und sich womöglich widersprechende Gefühle zu haben, Außerdem, dass es möglich ist, geliebt und respektiert zu werden, auch wenn man einmal ärgerlich ist und dies äußert. Sie müssen unterscheiden lernen, dass sie manchmal Dinge tun, die eine andere Person nicht mag, sie aber trotzdem weiter liebenswert sind und nicht als gesamter Mensch abgelehnt werden.

Liebe und Sexualität - wie die Einheit gelingt (ab Seite 151)

Die fünfte Entwicklungsaufgabe stellt sich dem Kind zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr, wenn es in die sogenannte genitale Phase kommt. Hier geht es darum, dass es von den Eltern auch als sinnliches Wesen wahrgenommen und in seiner Geschlechtlichkeit gesehen wird, ohne dass es zu Grenzüberschreitungen kommt. Kinder in dieser Phase fangen an zu »flirten« und Rollen auszuprobieren. Sie nehmen ihre Gefühle viel differenzierter wahr und beginnen, sie auszudrücken. In dieser Zeit macht das Kind große Entwicklungsschritte hin zu mehr Selbstständigkeit, aber auch seine kognitiven Fähigkeiten nehmen enorm zu: 

  • Das Kind lernt, in ganzen Sätzen zu sprechen. 
  • Es versteht das Prinzip von Ursache und Wirkung.
  • Es kann willkürlich Muskeln anspannen und entspannen.
  • Es kann bewusst den Fokus von Fantasie zu Realität wechseln.
  • Es wird sich der Geschlechterrollen bewusst sowie der verschiedenen Rollen innerhalb der Familie und in anderen Gruppen.
  • Das Kind entwickelt die Fähigkeit, sinnliche Gefühle und Liebe zu empfinden und diese auf der Ebene des Herzens aufzunehmen.
  • Es kann Liebe und erotische Gefühle im Bauch spüren und diese auch ausdrücken.
  • Es fängt an, Freundschaften zu entwickeln (beste Freundin/bester Freund).

Verläuft diese Phase positiv, können Menschen später Liebe, und Sexualität miteinander vereinen. Sie nehmen sich selbst als sinnliche Wesen wahr, ohne Nähe sofort mit Sexualität ,, verwechseln oder jeden Kontakt zu sexualisieren. Sexualität, für sie ein Ausdruck von Intimität und Liebe und Teil eine, lebendigen Liebesbeziehung. 

Sehr häufig werden Kinder jedoch in dieser Zeit mit ihre, Sinnlichkeit abgelehnt, oder es findet eine Sexualisierung statt Beides hat Auswirkungen auf unser Befinden und unser Leben als Erwachsene. Werden Kinder zurückgewiesen, lernen sie dass ihre Sexualität schlecht ist und nicht erwünscht. 

Aus Angst, »irgendwie übergriffig« zu werden, weisen Eltern ihre Kinder manchmal ab einem bestimmten Alter körperlich zurück. Die Kinder erleben dies als einen heftigen Kontakt - und Beziehungsabbruch, der sie verwirrt und verletzt. Und sie lernen implizit, dass ihre Sexualität schlecht und unerwünscht sein muss. 

Auf der anderen Seite kommt es in dieser Phase tatsächlich zu Übergriffen durch Eltern. Leider gibt es immer wieder Familien, in denen die kindliche Sinnlichkeit und das Ausprobieren von Rollen als ein gerichtetes sexuelles Interesse der Kinder an den Eltern missverstanden werden. 

Selbstverständlich ist das Thema sexuelle Gewalt für alle Altersgruppen relevant. Ich spreche es lediglich an dieser Stelle an, weil es in den Kontext der fünften Lernaufgabe passt. Ich möchte noch etwas zu sexueller Gewalt im Allgemeinen sagen, da es hier immer noch viele Missverständnisse gibt, unter denen die Betroffenen stark leiden. Sexuelle Gewalt ist nicht gleichbedeutend mit einer Vergewaltigung. Sexuelle Gewalt - ich benutze diesen Begriff bewusst, weil er den Tatbestand 
deutlicher ausdrückt als sexueller Missbrauch - beginnt, wenn ein Erwachsener sexuelle Energie auf ein Kind richtet oder es dieser aussetzt (zum Beispiel durch Pornografie). Jede Frau weifs, wie übergriffig ein Blick sein kann und wie unangenehm das ist. Für Kinder ist diese Energie immer überwältigend! Es gibt kaum eine intensivere und auf eine bestimmte Art rohere Energie als sexuelle Lust. Selbst als Erwachsene können wir kaum damit umgehen oder ekeln uns, wenn jemand seine Lust auf uns richtet und wir keine Lust verspüren. Für Kinder geschehen mehrere Dinge, wenn sie mit dieser Energie konfrontiert werden: 

  1. Die Energie ist so stark, dass es für das Kind nicht zu bewältigen ist. Es kommt immer zu einer Überforderung und Überwältigung - auch wenn keine Berührung stattfindet.
  2. Das Kind ist vollkommen verwirrt, es kann das Geschehen nicht einordnen.
  3. Durch die Stresssituation wird beim Kind der Bindungsreflex aktiviert, und wenn die Person, von der die sexuelle Gewalt ausgeht, eine enge Bezugsperson ist, will das Kind von dieser Person beschützt werden. Es merkt jedoch, dass das nicht geht. Kinder können nicht benennen, was da passiert, und das macht sie völlig hilflos.

Viele Male saßen mir Frauen gegenüber, manchmal auch Männer, die sagten: »Eigentlich ist nichts passiert.« Außerdem geben sich viele Betroffene selbst die Schuld an dem, was geschehen ist. Vielfach sagen die Täter oder Täterinnen den Kindern auch, dass sie schuld am Verhalten des Täters seien. Als Erwachsene verstehen die Betroffenen oft nicht, warum ihr Leben und ihr Umgang mit Nähe und Intimität so schwierig ist, einfach, weil sie im Kopf haben, dass sexuelle Gewalt immer ein schwerer körperlicher Übergriff sein muss - damit er »gilt« oder Folgen haben darf. 

Als ich noch Selbstverteidigungs und Selbstbehauptung, kurse leitete, habe ich anfangs auch Kurse nur für Mädchen ay geboten. Ich war schockiert, dass alle Mädchen, die in der P, bertät waren, schon genau wussten, wovon ich sprach, wen, es um die Aufklärung über sexuelle Übergriffe ging. Entwede, hatten sie es selbst erlebt, oder sie kannten jemanden, der eine solche Erfahrung gemacht hatte. Sie wussten, welcher Lehrer in der Schule übergriffig war - besonders beliebt waren immer wieder die Hilfestellungen im Sport. Sexuelle Übergriffe sing nicht selten, aber sie werden nur selten öffentlich. 

Sexuelle Gewalt ist niemals harmlos. Leider sind die Umstände, unter denen sie stattfindet, oft genauso traumatisierend wie der Übergriff selbst. Das Kind ist fast immer vollkommen al. lein mit dem Geschehen. Sehr häufig wird ihm nicht geglaubt, das Ganze wird bagatellisiert, und so empfindet das Kind eine Trennung von seinen Bezugspersonen. Es wird einsam und fühlt sich anders. Meist kommt es zu dem Schluss, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. In der Psychotherapie spricht man hier von »Sekundärtraumatisierung«, also einem Trauma, das noch auf das ursprünglich erlebte Trauma folgt. Meiner Meinung nach hätten viele Menschen weitaus weniger unter den Folgen von einmaligen Übergriffen zu leiden, wenn sie damals, als Kind, sofort aufgefangen worden wären. Ein Kind, das einen sexuellen Übergriff erlebt, müsste umgehend erfahren, dass Unrecht an ihm begangen wurde und die Verantwortung zu 100 Prozent beim Täter oder bei der Täterin liegt. 

Ich kann es immer wieder nicht fassen, wie schnell ein Mensch das Leben eines anderen tief greifend verändern kann. Ein Übergriff kann 30 Sekunden dauern und doch die Welt eines Kindes für immer prägen. Die Betroffenen werden imme! noch weitgehend damit alleingelassen - das ist grausam, ung‘ recht und kostet die Gesellschaft als ganze einen hohen Preis.

Verletzte Herzen 

Wir können sagen: Kinder, die mit ihren Gefühlen - auch den sinnlichen - zurückgewiesen werden, erleben das als Zurückweisung ihrer Liebe. Kinder, deren Sinnlichkeit sexualisiert wird, erleben das als Sexualisierung ihrer Liebe. Menschen, für die diese Entwicklungsaufgabe nicht gut verlaufen ist, trennen als Erwachsene häufig Liebe und Sexualität. 

Wer als Kind mit seiner Sinnlichkeit zurückgewiesen wurde, tut sich schwer damit, Liebe und Sexualität zu verbinden, und ist im Herzen verletzt. Die Lernaufgabe wäre es gewesen, zu erkennen, dass es in Ordnung ist, anderen gegenüber erotische/ sexuelle Gefühle zu empfinden. Menschen, die diese Erfahrung nicht machen durften, neigen später dazu, ihre Sexualität nicht zu fühlen und ihre Liebe als »rein« zu definieren, da sie frei von sexuellen Wünschen ist. Ihre Aufgabe ist es, zu lernen, dass man sexuelle Gefühle haben und selbst entscheiden darf, ob man diese ausleben möchte oder nicht. 

Viele Betroffene tragen die Angst in sich, dass sie ihr Herz verlieren, wenn sie lieben. Lieben bedeutet für sie, ihr Herz zu verschenken, und sie glauben dann, dass der andere damit machen kann, was er will - eine Vorstellung, die übrigens in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. Wird die Liebe dieser Menschen zurückgewiesen, führt das zu tiefen Gefühlen der Verletzung und Ohnmacht. Sie haben dann das Gefühl, dass ihnen ihre Liebe regelrecht weggenommen wird. Deshalb ist es wichtig, dass sie lernen: Liebe kann man empfangen und geben, aber das Herz bleibt immer unser eigenes und kann nicht verloren werden. 

Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die als Kinder von ihren Eltern sexualisiert wurden. Damit einher geht eine Funktionalisierung: Das Kind wird für die Bedürfnisse des Erwachsenen benutzt. Dies kann später dazu führen, dass Men, schen Sexualität vollkommen von Liebe abspalten und nu, ihrerseits Sexualität benutzen, damit ihnen bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden. Sexualität hat dann nichts mit Intimität, oder gar Liebe zu tun, sondern ist eine Funktion und ein Ab. lauf, der auf die Körperlichkeit reduziert wird. Bei Menschen, die diese Trennung sehr stark vorgenommen haben, ist Sex ein Akt wie zusammen Kaffee trinken zu gehen. Sie neigen dazu, fast jeden Kontakt zu sexualisieren. Fragt man nach, so stellt sich manchmal heraus, dass es keine Freunde gibt, mit denen die Person nicht auch schon Sex hatte. 

Haben die Betroffenen dann doch einmal eine Beziehung und lassen sich auf Liebe ein, so verlieren sie häufig den Zugang zu ihrer sexuellen Lust, sobald die Partnerschaft sich vertieft. Am Anfang sind Lust und Begehren kein Problem, doch wenn sich das Verliebtsein zu einer Beziehung und zu Liebe entwickelt, verlieren Menschen mit diesen Kindheitsprägungen häufig den Kontakt zu ihrem Begehren. Dieses flammt nur auf, wenn dabei keine Intimität und Liebe im Spiel sind. In einer Liebesbeziehung folgt daraus natürlich viel Frustration auf beiden Seiten. Der Weg aus diesem Dilemma führt darüber, die alten Verletzungen zu integrieren, einen Zugang zu sich selbst zu finden und sich die eigene Lust und Liebe wieder anzueignen. Sie sollte nicht länger ein Mittel zum Zweck sein, weil sie in der Kindheit funktionalisiert wurde. 

Ein weiteres großes Thema für Menschen mit dieser Struktur ist das Thema Leistung. Hier finden wir oft große Leistungsträger der Gesellschaft, die ihr Leben darauf ausgerichtet haben, etwas zu leisten. Sie fühlen sich nur wertvoll, wenn sie arbeiten und effizient sind. 

Ein solcher Mensch wurde in seinen ersten Lebensjahren womöglich nur auf der Erwachsenenebene gesehen. Das Kind bekam Anerkennung, wenn es sich auch »erwachsen« benommen hat. Oft wurde es stark »gefördert« und zu Leistung erzogen. Es hat gelernt, nicht für das eigene Sein geliebt zu werden, sondern für seine Errungenschaften. Manchmal vermitteln EItern dem Kind, wie enttäuscht sie von ihm sind und dass sie mehr erwartet hätten. Egal, wie sehr sich das Kind anstrengt, es ist einfach nicht gut genug. Als Erwachsene verstricken sich diese Menschen häufig in ihren Leistungsansprüchen und versuchen, ihr Leben über Effizienz und Output zu definieren. Viele von ihnen geraten später in eine klassische Midlife-Crisis, wenn sie mit 40 oder so merken, dass sie sich leer fühlen und innerlich nirgendwo angekommen sind. 

Ihre inneren Überzeugungen lauten: 

- Niemand versteht oder sieht meine Gefühle. 
- Meine Gefühle sind inakzeptabel. 
- Ich bin nicht liebenswert und muss um Beachtung kämpfen. 
- Ichkann mein Herz nicht öffnen. . 
- Ich muss Leistung zeigen. 
- Ich muss hart arbeiten, damit ich akzeptiert werde. 
- Wenn ich noch diese eine Sache mache, dann wird es gut sein. 


Wie bei allen anderen Entwicklungsaufgaben gilt auch hier: Menschen, die mit der fünften Lernaufgabe Schwierigkeiten haben, verfügen auch über spezifische Ressourcen. Menschen mit dieser Struktur haben Zugang zu ihrer Energie und Lebendigkeit und können liebevoll und enthusiastisch sein. Sie sind weitgehend im Leben gelandet und können es gut gestalten. Sie strahlen Selbstbewusstsein aus, bewegen sich gern in Gesellschaft und werden von anderen Menschen häufig als interessant und unterhaltsam empfunden. 

Die beiden größten Herausforderungen für sie bestehen zun, einen darin, ihr Herz wieder zu öffnen und Liebe zuzulassen, Dabei ist es wichtig, dass sie unterscheiden lernen, bei wel. chen Herzensverbindungen sie auch ihre Sexualität einbringen möchten. Zum anderen gilt es, zu erkennen, dass sie mehr sind als das, was sie leisten, und dass sie eine Lebensberechtigung haben, auch wenn sie nicht ständig arbeiten. 

Ich hoffe, du konntest dich in diesem ersten Teil des Buches wiederfinden und neue Erkenntnisse über dich sammeln. Vielleicht hast du nun mehr Verständnis dafür, wieso dein Leben so ist, wie es ist. Im zweiten Teil möchte ich darlegen, worauf du deine Aufmerksamkeit richten solltest, um wirkliche Veränderungen in deinem Leben zu erreichen.

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