dami charf Bindungsarten
Auszüge aus dem Buch:
Auch alte Wunden können heilen von Dami Charf - 
 

Die vier Bindungstypen (ab Seite 71)

So verschieden uns der Umgang von Menschen mit ihren Partnern oder der Umgang von Eltern mit ihren Kindern erscheinen mag, so hat sich doch herausgestellt, dass es viele Gemeinsamkeiten gibt, die sich in vier Kategorien ordnen lassen.
Mary Ainsworth”, eine Kollegin von John Bowlby, hat Bindung empirisch erfassbar gemacht, indem sie der sogenannten Fremde-Situations-Test (Strange Situation Test) entwickelte. Darauf beruht die Klassifikation von vier unterschiedlichen Bindungsmustern, die sich selbstverständlich auch überschneiden können:

1. die sichere Bindung, -”

2. die unsicher-vermeidende Bindung,

3. die unsicher-ambivalente Bindung,

4. die desorganisierte Bindung.

Schauen wir uns zunächst an, wie die unterschiedlichen Bindungsstile entstehen, um danach näher zu beleuchten, welche Auswirkungen dies für unser Liebesleben als Erwachsene hat.

Dem Leben vertrauen können

Vertrauen ins Leben zu haben, die innere Überzeugung, einen: Platz auf dieser Welt zu besitzen und Teil einer Gemeinschaft zu sein, schenkt Menschen eine enorme Sicherheit. Eine Sicherheit, die für viele von uns kaum vorstellbar ist. Sie entwickelt sich durch eine sogenannte sichere Bindung im Kleinkindalter. Sicherheit entsteht für Kinder, wenn Eltern verlässlich, einschätzbar und zugewandt sind und die Kinder sich von den Eltern gesehen und gefühlt fühlen. Einem Kind muss dies durch ein entsprechendes Verhalten gezeigt werden. Lippenbekenntnisse taugen nicht dafür. Eltern können noch so oft behaupten, dass sie sich viel Mühe geben, ihr Kind sehr lieben und alles für es tun würden = letztlich kommt es darauf an, wie sie sich Tag für Tag verhalten,

Auf Regen folgt Sonnenschein

Sichere Eltern sind zugewandt und darum bemüht, die Bedürfnisse des Kindes nach Körper- und Augenkontakt, Spiel und Interaktion zu befriedigen. Es braucht nicht betont zu werden, dass es keine perfekten Eltern gibt. Die Bindungsforschung spricht von »genügend guten« Eltern. Der etwas trockene Begriff wurde gewählt, weil Eltern auch eigene Bedürfnisse haben und nicht immer nur für ihr Kind da sein können. Es ist unvermeidlich, ein Kind auch einmal zu enttäuschen. Enttäuschungen und sogar Verletzungen gehören zu jeder Art von Beziehung dazu, sie sind ein Teil davon.
Sicher gebundene Kinder erleben mit ihren Eltern also auch Konflikte und Bindungsunterbrechungen, Allerdings bemühen sich ihre Eltern aktiv um eine Reparatur des Schadens. Kinder lernen also, dass Konflikte gar nicht schlimm sind. Sie erfahren, dass solche Situationen gelöst werden können und dass danach eine noch tiefere Bindung entsteht. Ein sicher gebundenes Kind kann sich darauf verlassen, dass Verletzungen und Konflikte gesehen und geheilt werden. Es lernt sozusagen, dass auf Regen Sonnenschein folgt. Sichere Bindung ist ein Zyklus aus Harmonie, Konflikt, Bindungsunterbrechung, Reparatur und wiederhergestellter Harmonie.

Intakte Grenzen

Sichere Eltern können das Kind als ein eigenständiges Wesen sehen und nicht als eine Erweiterung ihrer selbst. Die Wahrnehmung des Kindes als eigenständiges Wesen ist sehr wichtig für seine Entwicklung. Am Anfang des Lebens ist das Kind zwar noch an das Nervensystem der Mutter angebunden, die das Kind spürt und reguliert. Doch wenn es immer selbstständiger wird und anfängt, die Welt zu erobern, muss die Mutter (oder Bezugsperson) das Kind langsam, aber stetig aus dieser eher symbiotischen Bindung entlassen. Manchen Müttern ist das nicht möglich, weil sie sich dann selbst verlassen fühlen und eigene Ängste aktiviert werden.
Viele meiner Klienten haben das Gefühl, einer ständigen Invasion ausgesetzt gewesen zu sein. Diese Wahrnehmung hängt wie eine Glocke über ihnen. Wenn sie keine Gewalt erlebt haben, können sie die Empfindung häufig zunächst nicht zuordnen. Es ist mehr ein diffuses Gefühl, das ihr Leben vergiftet. Sehr häufig stellt sich dann heraus, dass sich die entsprechenden Bezugspersonen energetisch in das System des Kindes »eingeklinkt« haben. Sie suchten seine Nähe für die Erfüllung eigener Bedürfnisse und regulieren sich auch oft über das Kind. Das mag sich harmlos anhören, ist es aber nicht. Ein Baby oder Kleinkind ist vollkommen überfordert damit, einen erwachsenen Menschen zu regulieren. Wenn dieser seine Bedürftigkeit auf so ein kleines Wesen richtet, ist das wie eine Welle, die das Kind unter sich begräbt.
Sicher gebundene Kinder dagegen haben als Erwachsene das Gefühl, um ihrer selbst willen geliebt worden zu sein. Sie fühlten sich gesehen und unterstützt, die Eltern standen für Interaktion und Auseinandersetzungen zur Verfügung, Diese Eltern hatten intakte Grenzen, die sie dem Kind auch bisweilen aufzeigten. Sie setzten einen klaren Rahmen, der wiederum Sicherheit gab.

Zeit für dich

Ein wichtiger Faktor sicherer Bindung ist gemeinsam verbrachte Zeit, Zeit, die mit Schmusen, altersgerechter Interaktion und Spiel gefüllt wird, Zeit, in der das Kind Aufmerksamkeit bekommt und gesehen wird. Zeit, in der das Kind sich als »Teil von« fühlt.
Sichere Bindung zeigt sich auch dann, wenn Eltern keine Zeit haben, sich dem Kind hundertprozentig zu widmen. Sie manifestiert sich in kurzen Blicken, in einem Lächeln, das sagt: »Ich sehe dich, und ich liebe dich.«

Was im anderen vorgeht

Damit Eltern sich auf ihre Kinder einstellen und ihre Bedürfnisse sehen können, brauchen sie eine sehr wichtige Fähigkeit, die Theory of Mind. Darunter versteht man die Fähigkeit, sich ein Bild davon zu machen, was in einem anderen Menschen vorgeht, ohne von eigenen Gefühlen und Bedürfnissen geleitet zu sein. Manch einem fällt das leicht, anderen ist es kaum möglich.
In einem Seminar für Trauerbegleitung versuchte ich einmal, den Teilnehmenden zu vermitteln, wie wichtig es ist, herauszufinden, wie jemand Trauer empfindet und was er oder sie braucht, um sich getröstet oder gut begleitet zu fühlen. Trost hat viele verschiedene Gesichter. Trost zu spenden kann bedeuten, still neben einem trauernden Menschen zu sitzen. Andere möchten vielleicht von der verstorbenen Person erzählen oder weinen dürfen, während jemand ihre Hand hält,
Eine Teilnehmerin erklärte, sie mache es immer so, wie sie es sich bei ihrem eigenen Verlust auch gewünscht hätte. Es war unmöglich, ihr klarzumachen, dass Menschen unterschiedlich sind und nicht für jeden gut ist, was sie als gut empfand. Bei dieser Teilnehmerin zeigte sich ein Mangel an Fähigkeit zur Theory of Mind. Dahinter steht die Haltung: »Ich schließe von mir auf andere« - eine sehr eingeschränkte Sichtweise
Eltern - und natürlich alle Menschen, die Beziehungen glücklich gestalten wollen - brauchen jedoch die Fähigkeit, »durch die Augen der anderen Person zu schauen«, Sie müssen in der Lage sein, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, Kinder unter vier Jahren denken, dass ihr Gegenüber das Gleiche sieht wie sie selbst. Sie können nicht abstrahieren und erkennen, dass ihr Gegenüber eine andere Perspektive hat und deshalb etwas anderes sieht. Verschiedene Experimente belegen das. Zum Beispiel wurde Kindern ein Würfel gezeigt, der auf einer Seite rot und auf der anderen blau war. Dann wurde der Würfel mit der roten Seite vor sie gelegt und gefragt, was sie sähen und was ihr Gegenüber für eine Farbe sähe. Obwohl sie die beiden verschiedenfarbigen Seiten des Würfels vorher angeschaut hatten, nahmen die Kinder an, dass ihr Gegenüber auch rot sehen würde.
Erwachsene, die ihre Perspektive für die einzig wahre halten, sind nicht ausreichend über diese Entwicklungsstufe hinweggekommen. Das bedeutet leider auch, dass sie beispielsweise ihr Kind füttern, wenn sie selbst hungrig sind, oder es warm anziehen, wenn sie selbst frieren, Bei emotionalen Bedürfnissen können sie oft nur ihre eigene Perspektive und ihre Bedürfnisse wahrnehmen, und sie überschreiten häufig die Grenzen ihres Kindes, ohne es als eigenständiges Wesen wahrzunehmen und zu würdigen,
Um ihren Kindern eine sichere Bindung zur Verfügung stellen zu können, müssen Eltern selbst gut reguliert sein und sich selbst fühlen können. Eine Dysregulation bei den Bezugspersonen überträgt sich immer auf das Kind, denn wie sollte es besser reguliert sein als seine Eltern? Kinder mit sicherer Bindung lernen, dass sie sich darauf verlassen können, dass jemand da ist und für sie sorgt. Selbst wenn es einmal zu einem Konflikt oder einer Trennung kommt, wird dies wieder repariert, Daraus entsteht ein Grundvertrauen in das Gute der Welt. Sicher gebundene Kinder haben das Gefühl. »Die Welt ist sicher, und es wird gut für mich gesorgt.«

Der »Fremde-Situations-Test«

Al das zeigt sich in dem bereits angesprochenen, von Mary Ainsworth entwickelten Fremde-Situations-Test. In der Versuchssituation werden einjährige Kleinkinder mit ihrer Mutter oder ihrer Hauptbezugsperson in einen Raum gebracht, in dem noch eine fremde Person sitzt. Außerdem liegt Spielzeug auf dem Boden, mit dem die meisten Kinder auch spielen. Nach kurzer Zeit verlässt die Bezugsperson den Raum, und das Kind bleibt mit der fremden Person allein. Nach drei Minuten kommt die Mutter wieder in den Raum, und es wird beobachtet, wie das Kind auf ihre Rückkehr reagiert. Das Augenmerk liegt also nicht auf der Situation des Verlassenwerdens, sondern darauf, wie das Kind sich verhält, wenn seine Bezugsperson wiederkommt. Dabei können eklatante Unterschiede beobachtet werden.

Die Welt als sicherer Ort

Kinder mit dem beschriebenen sicheren Bindungsmuster zeigen sich in der Versuchssituation kurzfristig irritiert und weinen gegebenenfalls, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, lassen sich jedoch von der Testerin trösten und beruhigen sich schnell wieder; sie spielen im Raum auch mit der Testerin. Kommt die Bezugsperson wieder, so laufen sie ihr entgegen und begrüßen sie freudig.

Sicher gebundene Kinder entwickeln aufgrund von elterlicher »Feinfühligkeit« eine große Zuversicht in die Verfügbarkeit der Bezugsperson. Die Feinfühligkeit der Mütter ist gekennzeichnet durch die prompte Wahrnehmung der kindlichen Signale. Die Mütter interpretieren diese richtig und reagieren angemessen darauf. Dank der direkten Reaktion kommt es zu keiner starken Frustration des Kindes.

Sicher gebundene Kinder weinen durchaus innerhalb der »fremden Situation«. Obwohl die Trennung bei ihnen also mit negativen Gefühlen verbunden ist, vertrauen sie dennoch darauf, dass die Bezugsperson sie im Bedarfsfall nicht im Stich lassen oder in irgendeiner Weise falsch reagieren wird. Diese erfüllt in einer derartigen Bindung die Rolle eines »sicheren Hafens«, der immer Schutz bieten wird, wenn das Kind dessen bedarf. Die Kinder sind traurig, dass die Bezugsperson nicht bei ihnen ist, aber sie gehen davon aus, dass sie zurückkommt. Erscheint die Mutter oder die Hauptbezugsperson im Raum, freuen sich die Kinder. Sie suchen Nähe und Kontakt und wenden sich kurz danach wieder ihrem Spiel zu.

Diese Hinwendung zur Erkundung des Raums und zum Spiel nennt man Explorationsverhalten. Es ist ein wichtiges Kennzeichen sicher gebundener Kinder. Sie sind neugierig und offen für Neues und die Erforschung ihrer Welt. Sie sind ausgeglichen und im Großen und Ganzen freudig gestimmt. Ihre Welt ist in Ordnung. Sichere Bindung bedeutet, sich im Kontakt entspannen zu können und die Erwartung zu haben, dass bei Bedarf jemand da ist. So ist es möglich, gelassen in Kontakt zu gehen und auch wieder aus dem Kontakt zu treten.

Die Angst vor Nähe

Der zweite Bindungsstil wird als unsicher-vermeidend bezeichnet, da diese Kinder es umgehen, Bedürfnisse zu zeigen und Nähe zu suchen.
Beobachtet man Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil während des Fremde-Situations-Tests, so könnte man glauben, alles sei in bester Ordnung. Sie schauen kaum vom Spiel auf, wenn die Mutter den Raum verlässt, und auch nicht, wenn sie wiederkommt. Sie scheinen in ihr Spiel vertieft zu sein und kaum zu bemerken, was ihre Mutter macht. Die meiste Zeit ignorieren sie ihre Bezugsperson und beschäftigen sich mit sich allein.
Unter der Oberfläche liegt jedoch eine andere Wahrheit. Der Kortisolspiegel im Speichel dieser Kinder steigt rapide an, wenn die Mutter den Raum verlässt. Daran zeigt sich, wie sehr der Stresspegel der Kinder sich erhöht, obwohl es von außen nicht zu sehen ist. In den Tests wurde festgestellt, dass der Stresslevel dieser Kinder über dem der sicher gebundenen Kinder liegt, obwohl diese weinen und ihnen der Stress deutlich anzusehen ist.
Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil haben sich eine Schein-Autonomie angeeignet und wirken unabhängig und sicher, obwohl sie es nicht sind, Sie spielen, um ihren Stress zu kompensieren, Ihr Bindungssystem ist schon in diesem frühen Alter - etwa einem Jahr - stark zurückgefahren, Sie lenken sich ab und vermeiden den Kontakt mit ihrer Bezugsperson, Sie haben bereits gelernt, sich möglichst nichts von ihren Ängsten und Bedürfnissen anmerken zu lassen. In vielen Fällen stellen sie eher Kontakt zu der fremden Person im Raum her als zu ihrer Mutter.
Der Grund dafür ist das Verhalten der Mutter gegenüber dem Kind. Das Bindungsverhalten dieser Kinder folgt immer dem Schlüssel-Schloss-Prinzip: Sie zeigen das Verhalten, das ihnen bei ihren Bezugspersonen am meisten Aufmerksamkeit, Liebe und Sicherheit einbringt. Dieser Zusammenhang kann gar nicht genug betont werden, weil sich in der Folge so viele Menschen als Erwachsene schlecht, unfähig oder kalt fühlen.
Eine Mutter, die selbst keine Nähe zulassen kann, weist ihr Kind immer wieder ab, wenn es Kontakt möchte. Sie zeigt relativ konstant ein ablehnendes Verhalten und steht für die Bedürfnisse des Kindes nicht zur Verfügung, ob aus Überforderung oder auch aus einer aktiven Ablehnung des Kindes heraus. Dadurch Iernt das Kind, seinen Impuls nach Verbindung zu unterdrücken, weil die Reaktion negativ und damit schmerzhaft ist. Es lernt aber auch, dass es, wenn es nur ganz still und »unkompliziert« ist, ab und zu Lob und Zuwendung einheimst. Häufig führt diese Anpassung zu sehr »pflegeleichten« Kindern.
Kinder mit dem unsicher-vermeidenden Bindungsstil vertrauen nicht darauf, dass ihre Bezugsperson für sie da ist und sich sorgt. Sie entwickeln das Bild, dass die Welt ihnen ablehnend gegenübersteht und ihre Wünsche und Bedürfnisse nie erfüllt werden. Liebe und Unterstützung scheinen ihnen nicht zuzustehen, und so bleiben sie allein und tauchen ab in eine Fantasiewelt. Sie sind verloren in einer Blase aus Einsamkeit und Kälte, und ihr Leben und Erleben ist bestimmt von Zurückweisung. Sie lernen, dass sie allein klarkommen müssen, und gewöhnen sich daran, Beziehungen zu vermeiden. Sie wissen, Beziehungen und Liebe tun weh und sind bedrohlich, Mehr und mehr richten sie sich im Vermeidungsverhalten ein und hören auf, durch Blickkontakt und andere Kontaktsignale nach Bindung zu suchen. Sie haben resigniert.
Da Autonomie in unserer Gesellschaft ein hohes Gut ist, erkennen auch andere Personen im Umfeld nur selten das Leid dieser Kinder. Die Kinder stellen keine Ansprüche, spielen allein und nörgeln nicht. Im Grunde sehen wir hier sehr frühes dissoziatives Verhalten von Kindern, die nicht »landen« dürfen. Wenn Eltern ihr Kind zu oft abweisen, fühlt es sich nicht willkommen auf der Welt und in der Familie, Es entwickelt das Gefühl, falsch zu sein. Daraus entsteht tiefe Scham, und das Kind zieht sich immer tiefer in sich selbst zurück. Das geht häufig so weit, dass das Kind den Kontakt zu sich selbst verliert und nur noch »funktioniert« und die Ansprüche anderer erfüllt. Oder es rebelliert und wendet sich von allen Beziehungsversuchen anderer Menschen ab. Im schlimmsten Fall haben wir dann verhaltensauffällige Kinder, die den Wunsch nach Bindung an andere Menschen schon sehr früh aufgegeben haben. Sie haben gelernt, dass Beziehung sich nicht lohnt. Ihr inneres Bild von Beziehung ließe sich umschreiben mit: »Es ist am sichersten, allein zu sein und nichts zu brauchen.«

Die Angst vor Verlassenheit

Der dritte Bindungsstil wird unsicher-ambivalent genannt. Kinder mit einem solchen Bindungsmuster werden im Fremde-Situations-Test sehr unsicher, wenn ihre Mutter den Raum verlässt, und die fremde Frau wirkt beängstigend und keinesfalls tröstend auf sie, Kommt die Mutter dann wieder in den Raum, kann auch sie das Kind kaum trösten, Das Stress-System dieser Kinder ist am Limit, und sie sind nur schwer zu beruhigen.
Gleichzeitig ist ihr Verhalten gegenüber der wiederkehrenden Mutter widersprüchlich. Einerseits klammern sie und schwanken andererseits zwischen Wutausbrüchen und Abwehr. Ein solches Verhalten deutet darauf hin, dass die Zuwendung der Bezugsperson nicht konstant ist. Die Mütter dieser Kinder sind unberechenbar und unbeständig in ihrem Verhalten gegenüber dem Kind. Zugewandte und eingestimmte Interaktionen wechseln sich ab mit Abwesenheit oder Genervt sein, Das Kind lernt, um die Aufmerksamkeit der Mutter zu kämpfen und seinen Fokus immer bei der Bezugsperson zu haben, um zu erfassen, wann diese erreichbar ist und wann nicht. Dieses Kind vergisst sich selbst, um für die Mutter da zu sein.
Dieser ständige Wechsel von Feinfühligkeit zu Zurückweisung seitens der Bezugsperson führt dazu, dass das Bindungssystem des Kindes ständig aktiviert ist. Die Bezugsperson wird zum Mittelpunkt seiner Welt, und das behindert sein Explorationsverhalten und seine Neugier. Das Kind lernt, dass Enttäuschung normal ist, und fängt an, dies in sein Weltbild einzubauen.
Sein inneres Bild von Beziehung lässt sich formulieren als: »Ich werde immer enttäuscht werden.«

Komm her-geh weg

Der vierte, der sogenannte desorganisierte Bindungsstil wurde erst später von der Forscherin Mary Main hinzugefügt. Sie hatte in ihren Studien festgestellt, dass es Kinder gab, die mit ihrem Verhalten keinem der drei anderen Stile entsprachen.
In der Versuchssituation des Fremde-Situations-Tests zeigen diese Kinder häufig sehr auffällige Verhaltensweisen. Bei Rückkehr der Mutter werfen sie sich auf den Boden, drehen sich im Kreis oder zeigen schaukelnde Bewegungen wie bei Hospitalismus, Es scheint, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie zu ihrer Bezugsperson hinlaufen oder von ihr weglaufen sollen, was dann zu den beschriebenen Verhaltensweisen führt.
Manchmal dissoziieren die Kinder auch, wenn die Bezugsperson wieder den Raum betritt. Es ist zu sehen, wie ihre Gesichter »leer« werden und sie ausdruckslos vor sich hinstarren, Andere reagieren mit Schrecken auf die Rückkehr der Mutter. Ein solches Verhalten deutet immer auf traumatische Bindungserfahrungen hin.
Es gibt zwei mächtige Instinkte in uns: die Suche nach Bindung und den Überlebensinstinkt, der sich durch die Flucht- und Angriffsreflexe zeigt. Damit eine desorganisierte Bindung entsteht, müssen häufig beide Reflexe gleichzeitig aktiviert werden: Das Kind sucht Schutz bei seiner Bezugsperson und muss sich gleichzeitig vor eben dieser Person schützen. Der Fluchtreflex wird aktiviert, Dies führt zu den seltsamen Verhaltensweisen der Kinder, wenn ihre Bezugsperson wieder den Raum betritt. Der Impuls »hin« und der Impuls »weg« sind gleichzeitig aktiv.
Damit wird auch klar, warum Gewalt oder sexuelle Übergriffe, die von nahen Bezugspersonen ausgehen, für Kinder eine lebensbedrohliche und emotional vernichtende Katastrophe bedeuten. Genau die Person, die das Kind liebt und braucht, von der es beschützt werden möchte und beschützt werden muss, stellt die größte Bedrohung dar. Die geliebte Person, der sichere Hafen wird zur größten Quelle der Angst. Das Kind kann mit einer solchen Situation nicht umgehen, sie stellt es vor einen praktisch unlösbaren inneren Konflikt. Daraus resultieren später im Leben Verhaltensweisen, die für die Betroffenen oft nicht zuzuordnen sind. Dies führt dann wiederum häufig zu Versagensgefühlen, zu dem Gefühl, falsch und unfähig zu sein, Das Gefühl kann sich noch verstärken, wenn ihnen die Gewalt schon vor dem dritten Lebensjahr angetan wurde und die Erfahrungen keinen Eingang in das explizite, also bewusste Gedächtnis gefunden haben.
Der desorganisierte Bindungsstil entsteht manchmal auch, wenn die Bezugsperson schwer traumatisiert ist und dies gar nicht oder nur unzureichend bearbeitet hat. Möglicherweise reagiert sie mit Angst und Verwirrung auf das Kind, das ständig diese Gemütszustände im Gesicht seiner Bezugsperson sieht. Es kann die Quelle der Angst nicht ausmachen, und der Schrecken, den es daraufhin spürt, aktiviert sein Bindungssystem. Die verängstigte Bezugsperson ist aber häufig nicht in der Lage, sich angemessen auf das Kind einzustellen und es zu beruhigen. So entsteht ein Teufelskreis der Dysregulation: Das Kind fängt an zu schreien, die Mutter wird immer verzweifelter und damit dysregulierter und kann ihr Kind nicht beruhigen, was dazu führt, dass das Kind noch mehr schreit.
Schwer traumatisierte Menschen fallen außerdem immer wieder in dissoziierte Zustände, bei denen es passieren kann, dass sie vollkommen teilnahmslos dasitzen und in die Ferne starren. Dabei vergessen sie ihr Kind entweder ganz oder es ist ihnen nicht möglich, auf das Kind zu reagieren. Eine Klientin berichtete mir einmal, dass sie irgendwann aus einer solchen Starre wieder aufgewacht sei und eine Stunde vergangen war. Kinder lernen, mit solchen Zuständen ihrer Eltern umzugehen, indem sie selbst dissoziieren und sich praktisch »ausklinken«, bis ihre Bezugsperson wieder ansprechbar ist.
Ein weiterer Faktor für einen desorganisierten Bindungsstil können Depressionen oder auch Persönlichkeitsstörungen von Eltern sein. Der Mangel an emotionaler Zuwendung, das Gefühl, quasi ausgelöscht zu werden, da keine Reaktion im Gesicht der Mutter zu finden ist, kann ein Kind zutiefst verstören.
Kinder erleben die Welt durch ihre Bezugspersonen. Sind diese unberechenbar und gefährlich, nehmen Kinder die Welt als einen gefährlichen Ort wahr und erleben sich selbst als schutzlos und ausgeliefert. Als Folge davon suchen sie nach Bindung und flüchten gleichzeitig mit aller Kraft davor.
Das Weltbild eines Kindes mit desorganisiertem Bindungsstil lässt sich umschreiben mit: »Ich bin praktisch nicht vorhanden. Es ist immer Gefahr im Verzug. Es gibt keinen Ort für mich.«
Alle frühen Bindungserfahrungen beeinflussen jede Unserer Beziehungen, vor allem jedoch Liebesbeziehungen und Unsere Fähigkeit zur Selbstregulation. Die Bindungsqualität, die wir als Kind erfahren haben, ist ein wesentlicher Grundstein dafür, dass sich unsere Selbstregulation entwickeln und sich ein angemessenes Toleranzfenster ausbilden kann.
Entwicklungstrauma, Schocktrauma und fehlende Bindung sind die großen Faktoren, die Menschen an einem erfüllten Leben hindern.

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